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Als Ulrike Meyfarth mit dreizehn Jahren mit dem Hochsprung begann, war gerade das Zeitalter des Fosbur-Flop angebrochen, eines neuen Sprungstils, bei dem die Latte rückwärts überquert wurde. Ein Sprungstil, mit dem die damals bereits 1,86 m große Ulrike mit den langen Beinen blendend zurechtkam.
Dass sie mit sechzehn schon zu den Olympischen Spielen fahren durfte,
war in erster Linie Glück: Die Spiele fanden ja im eigenen Land statt,
teure Tickets fielen nicht an, und man wollte der Athletin die Chance
geben, ein wenig Erfahrung zu sammeln und die Luft großer internationaler
Wettbewerbe zu schnuppern. Völlig unbelastet nahm Ulrike eine Höhe nach
der anderen, staunte, dass die Latte liegen blieb und stellte schließlich
mit übersprungenen 1,92 m den Weltrekord der erfahrenen Straddle-Spingerin
Ilona Gusenbauer aus Österreich ein. Als »kleinen Nebeneffekt" hatte
sie auch noch die Goldmedaille gewonnen. Sie war genau 16 Jahre und
123 Tage alt und ist damit bis heute die jüngste Olympiasiegerin in
einem olympischen Leichtathletik-Einzelwettbewerb.
Später sagt sie über diesen Wettkampf: »Es war, also ob man einen
Film sah, indem man selber mitspielte.«
Kaum hatte sie die Medaille in der Hand, geschah der Terroranschlag der Palästinenser. Für kurze Zeit stand sie nicht mehr im öffentlichen Interesse. Aber bald schon stürzte sich die Presse wieder auf sie. Der Rummel war für die junge Frau nur schwer zu verkraften; auch ihre Schule und ihr Umfeld waren nicht auf eine Olympiasiegerin eingestellt. Und Ulrike wurde nicht damit fertig, eine »öffentliche Person« zu sein, jeden ihrer Schritte in den Zeitungen kommentiert zu sehen. Ihre sportlichen und schulischen Leistungen ließen nach. In Montreal 1976 schied sie schon im Vorkampf aus. Der Leichtathletikverband ließ sie fallen, strich sie aus der Sportförderung. Sie wollte Sport studieren, wurde aber nicht zugelassen. Die Goldmedaille reichte nicht, um den Numerus clausus zu überspringen. Mit 21 war sie abgeschrieben. In einem Interview mit "Die Zeit" sagte sie: »Sie kann mich ja eigentlich am Arsch lecken, die breite Öffentlichkeit.«
Sprach's, wechselte Trainer und Verein und zog sich aus dem Sumpf. EM-Fünfte war sie 1978, 1981 Europa- und Weltcupsiegerin. 1982 übersprang sie erstmals die 2 m, 1983 wurde sie mit 2,03 m Vizeweltmeisterin. Und veröffentlichte ein Buch: »Nicht nur die Höhe verändert sich.« Zwölf Jahre nach ihrem ersten Olympiasieg gewann sie in 1984 in Los Angeles noch einmal die Goldmedaille im Hochsprung - auch das eine Leistung, die vor und nach ihr keine/r geschafft hat.
Nach den Spielen begann sie ihr neues Leben. Sportstudium, Berufstätigkeit, Heirat und Kinder. Heute engagiert sie sich gegen Doping, für mehr Rechte der Athleten, für krebskranke Kinder. Als Angestellte des TSV Bayer 04 Leverkusen ist sie heute in Schulen auf Talentsuche. Sie bedauert dabei besonders, dass an den Kleinsten gespart wird. »Denn die Kinder erhalten nicht mehr die natürlichen, allumfassenden motorischen Grundausbildungen. Daran getan wird aber nichts. Keiner packt es an. Keiner setzt es um. In der Politik, speziell in der Schulpolitik, stößt man auf taube Ohren.«
Andrea C. Busch, 2002