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Forschung und Praxis verbinden

Professorin Dr. Elke Schimpf lehrt und forscht an der Fachhochschule

Ich bin 1961 in Schönaich bei Böblingen/Württemberg als zweite Tochter in einer Arbeiterfamilie geboren. Mein Vater arbeitete als Schriftsetzer in Stuttgart und meine Mutter war für den Alltag der Familie zuständig: die Versorgung des Mannes, der Kinder, ihrer Stiefmutter, ihrer Oma, die Pflege der verwandtschaftlichen privaten Beziehungen, wie auch für die Garten- und Hausarbeit. In Heimarbeit erledigte sie abends, wenn mein Vater Spätschicht hatte, diverse Näharbeiten, wie das Umsäumen von Teppichen und die Fertigstellung von Vorhängen.

Die Mutter meines Vaters, die seit 1946 Kriegswitwe war, lebte auch bei uns. Sie kannte alle Pflanzen und Kräuter in der Umgebung und sammelte diese für Tee, Salben und Schnaps. Meist war sie draußen auf dem Feld oder im Garten tätig, im Winter strickte sie für alle ihre Familienangehörigen Socken, Strumpfhosen, Pullover, Röcke, Handschuhe, Mützen und Puppenkleidung. Hausarbeiten wie Putzen, Waschen und Bügeln empfand sie als lästig und unbedeutsam. Sie erzählte viel und gern und freute sich, wenn ich ihr bei den Gartenarbeiten zum Beispiel beim Johannisbeeren pflücken half. Nachmittags spielte ich meist mit Nachbarkindern auf der Straße, in den Gärten und den nahe liegenden Feldern. Sonntagnachmittags unternahmen meine Eltern mit uns lange Spaziergänge im Wald Von meinen allein stehenden Großtanten aus Stuttgart bekam ich ab und zu ein Buch geschenkt. Tagsüber zu lesen war bei uns zu Hause eher unüblich und wurde mit der Frage: »Hast du nichts zu tun?« kommentiert.

1967 wurde ich in die Grundschule von Schönaich eingeschult und besuchte dort danach auch die Realschule. Nach der mittleren Reife wollte ich Krankenschwester werden. Ein Berufsberater hat mir als Übergang bis zum achtzehnten Lebensjahr empfohlen, das Hauswirtschaftliche Ernährungswissenschaftliche Gymnasium in Böblingen zu besuchen. Das Zusammensein und Lernen mit jungen Frauen eröffnete mir neue Perspektiven. Vor allem der Deutsch- und der Kunstunterricht war für mich sehr anregend und führte mich zur Auseinandersetzung mit Literatur und Malerei.

1980 habe ich mein Abitur gemacht. Danach wusste ich gar nicht mehr, was ich beruflich machen will. Das Soziale Jahr in einer großen Behinderteneinrichtung in Stetten eröffnete mir neue Lebens- und Berufsperspektiven. Ich wollte unbedingt studieren und mich mit unterschiedlichen Wissenschaften auseinandersetzen. Dies schien mir in einem Studium der Sozialpädagogik möglich. Ich hoffte, dass ich darüber auch Einfluss auf die Rahmenbedingungen und die Gestaltung sozialer Institutionen und einer Kultur des Sozialen erlangen könnte. Große Institutionen mit ihren starren Regeln erschienen mir menschenunwürdig.

Gegen den Willen meiner Eltern, die für mich eine Berufsausbildung in der Region gewünscht hatten, entschied ich mich für das Studium der Sozialwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Nach dem Vordiplom wechselte ich nach Tübingen an die Eberhard-Karls-Universität. Dort war ich bald als Tutorin in Studieneingangsseminaren tätig und habe zusätzlich Kulturwissenschaften studiert und als Familienhelferin gearbeitet.

Mein Studium habe ich nach insgesamt sieben Jahren 1988 beendet. Auf Grund meiner Forschungserfahrungen im Kontext der Diplomarbeit, in welcher ich qualitative Interviews mit jugendlichen Rockbands und Theatergruppen in einer ländlichen Region durchgeführt hatte, wurde ich gefragt, ob ich in einem größeren Praxisforschungsprojekt an der Universität mit einer halben Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeiten möchte. Eine Bedingung war, dass ich dazu promoviere, was ich zusagte, ich war mir jedoch unsicher, ob ich dieses Versprechen auch einhalten könnte. Beruhigend war, dass die anderen ProjektmitarbeiterInnen diese Skepsis teilten und wir uns gegenseitig ermutigten, einfach mal anzufangen und sich damit auszuprobieren. Die zentrale Forschungsfrage meines Projektes, welche Bedeutung kulturelle Medien für die Lebensbewältigung von Mädchen bzw. junge Frauen und Jungen bzw. junge Männer haben, schien mir ausgesprochen reizvoll.

Im Rahmen des Studium-generale-Programms der Universität Tübingen hatte ich bereits während meines Studiums die Gelegenheit wahrgenommen, einen Tag in der Woche mit Künstlern und Künstlerinnen gemeinsam zu experimentieren. Darüber entstanden Kontakte zu Studierenden der Naturwissenschaften und anderen Disziplinen. Das gemeinsame Malen und Gestalten eröffnete für mich neue Zugänge, Gestaltungsräume und Möglichkeiten der Alltagsbewältigung.

Schon nach einem Jahr wurde mein Praxisforschungsprojekt nicht mehr finanziell gefördert. Ich nahm eine Stelle als Regionalberaterin in einem Verband an und musste meine Dissertation nebenberuflich weiterschreiben, was kontinuierlich nicht möglich war. Durch die Ermutigung von Freundinnen und Freunden, die noch in Praxisforschungsprojekten tätig waren und selbst promovieren wollten, blieb ich weiterhin dran. Ich hatte kein klares Ziel mit der Promotion, sondern kam erst durch meine Berufserfahrungen als Jugendbildungreferentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in Jugendhilfeplanungsprojekten dazu, weitere Überlegungen anzustellen, was beruflich für mich noch möglich ist.

Mir fehlte in all meinen Arbeitskontexten vor allem Zeit zum Lesen, zur intensiveren Auseinandersetzung mit Themen und zur eigenen Weiterbildung. Durch Unzufriedenheiten am Arbeitsplatz herausgefordert, verfolgte ich stärker den Stellenmarkt in der Zeitung. Die Idee an einer Fachhochschule zu arbeiten und Forschung und Praxis eventuell mehr mit einander zu verbinden, schien mir reizvoll. Ein Hindernis war, dass ich meine Promotion noch nicht abgeschlossen hatte. Ich war "total überrascht" als ich eine Berufung an die Evangelische Fachhochschule Darmstadt bekam und mir dort auch die Möglichkeit eröffnet wurde, innerhalb der nächsten zwei Jahre meine Promotion zu beenden. Diese Option trug dazu bei, dass ich all die vielen Wochenenden und Wochen zur Fertigstellung der Promotion durchhielt und 1997, nach insgesamt acht Jahren, meine erste eigene Publikation veröffentlichte. Der Titel lautet: "Das Selbst kommt zum Bildnis - Kulturelle Aktivitäten als Aspekt der Lebensbewältigung von Mädchen und Frauen in ländlichen Regionen."

Inzwischen bin ich Professorin und führe Praxisforschungsprojekte mit Studierenden und Kolleginnen der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt durch. Themen sind z. B. Frühe Gewaltprävention, Lebensraumgestaltung, Bedarfserhebung in der Jugendhilfeplanung, Netzwerkentwicklung in der Jugendberufshilfe und politische Partizipation von Mädchen und jungen Frauen.

Aktuell arbeite ich an zwei Publikationen, in welchen ich die Erkenntnisse aus den Praxisforschungsprojekten zusammentrage. Eine Schwierigkeit ist, dass ich wenig Zeit am Stück habe, um das gesamte Material als interessanten Text zusammenzufassen. Längere Zeiträume, ungestörte Denkräume, fachliche Diskurse und gemeinsame Reflexionen sind aus meiner Sicht wesentliche Bedingungen um Forschung zu betreiben.

Um die Lust am Forschen nicht zu verlieren und all die anderen Verpflichtungen im Alltag zu bewältigen, benötige ich immer auch Zeit und Raum für kulturelle Tätigkeiten, wie Tanzen, Malen, Singen und zur Pflege von Freundschaften. Meine Vision ist, dass Forschung und Praxis Sozialer Arbeit künftig mehr miteinander verbunden werden und mehr gesellschaftliche Anerkennung erhalten. Ich wünsche mir, dass dafür genügen Experimentierräume eröffnet werden, und Frauen, die Interesse an Forschung haben und sich dafür engagieren wollen, Zusammenhänge erleben, die sie ermutigen und unterstützen, ihre Erkenntnisse auch zu veröffentlichen.

Meine Bindung zur Wissenschaftsstadt Darmstadt ist vor allem durch meine Professur an der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt zustande gekommen, inzwischen habe ich persönliche und kulturelle Bindungen an die Stadt und bin dort sehr gerne.

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