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Leben neu bedenken

Der 11. September 2001. Diesen Tag werden wir alle nicht vergessen. Die Anschläge in New York und Washington lösten bei allen, die sie in irgendeiner Form miterlebten, Angst, Schrecken und bei einigen sogar Panik aus. Wir waren zwar nicht dabei hier in Deutschland, und doch können wir uns nicht einfach von den Fernsehbildern lösen, auch Wochen danach noch nicht. Die Ereignisse bewegen etwas in uns. Wir trauern, und wir denken nach. Überdenken unser Leben, unsere Werte, Ziele...

befragte Frauen in Darmstadt, was sich für sie seit dem 11. September verändert hat. Haben sie ihr Leben neu überdacht oder sogar tatsächlich etwas geändert?

 

Dagmar L. (57 Jahre):

"Ja, ich überdenke mein Leben neu und das in allen Bereichen. Zu Hause möchte ich kleine Konflikte eher angehen und ansprechen du die großen Konflikte ernster nehmen.
Ich möchte tatkräftiger mitwirken, die Kluft zwischen arm und reich zu verkleinern, zum Beispiel durch Mitarbeit in Entwicklungsprojekten. Dem Glauben im weitesten Sinne möchte ich mehr nach gehen, das heißt, ich möchte wieder mehr in die Kirche gehen und die Stille üben. Verändert hat sich für mich auch schon einiges. Ich achte mehr auf friedvolle, beziehungsweise Hass und Gewalt ausdrückende Spreche. Ich beachte noch kritischer den Einfluss der Medien auf Gewalt. Ich gehe zu Seminaren, Gebeten und Friedensgesprächen."

Sarah Distelmann (16 Jahre):

"Es hat mich schockiert, dass so etwas überhaupt passieren konnte. Ich habe den Fernseher eingeschaltet und die Bilder gesehen. Ich war erstaunt, dass so etwas in Amerika passieren kann. Amerika ist so groß und erschien mir so unangreifbar.
Ein bisschen Angst hatte ich auch, die ist jetzt, wo sie den Gegenangriff gestartet haben, noch größer geworden, dass es irgendwann einmal in einen dritten Weltkrieg ausarten könnte. Ich habe viel darüber geredet und nachgedacht, vor allem in der Schule. Wir hatten Trauergottesdienst und Schweigeminute, und mit den einzelnen LehrerInnen wurde im Unterricht viel gesprochen, wie es dazu kommen konnte, wie es den Angehörigen geht und so weiter. Auch dass nicht alle Moslems Terroristen sind oder so radikal denken, wurde uns nahe gelegt."

Margret Simon (65 Jahre):

hat das Geräusch der niedergehenden Bomben in Dortmund und der Flak kurz vor dem Einmarsch der Alliierten noch sehr gut im Ohr:
"Seit dem 11.9.01 hat sich für mich nichts verändert. Krieg und Terror gab es auch vorher genug. Kurzfristig hatte ich die Hoffnung, die Politiker hätten aus den jüngsten Kriegen gelernt und Besonnenheit würde vielleicht doch die Oberhand gewinnen. Seit dem 9.11. hat das Grauen neue Nahrung bekommen. Meine Meinung ist, dass der Stärkere die Verpflichtung hätte, die Spirale der Gewalt und des Terrors zu durchbrechen. Das gilt für die Amerikaner genau so wie für die Israelis (sie wollen doch Stärke demonstrieren - sie hätten die Gelegenheit dazu). Und das gilt für alle anderen Kriegsschauplätze und für den kleinen Terror am Arbeitsplatz, den in den Schulen und in den Familien ebenfalls. Anders als gewohnt zu reagieren, könnte moralische Überlegenheit zeigen, von der jeder doch für sich überzeugt ist.
Und noch etwas: ,Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute mein Apfelbäumchen pflanzen.' Eine andere sinnvolle Reaktion weiß ich nicht.

Ursula Z. (63 Jahre):

"Geändert hat sich, wenn ich darüber nachdenke, eigentlich nichts. Aber es hat sich manche Frage intensiviert und in neuer Dringlichkeit und sehr konkret gestellt.
Für mein politisches Denken und Handeln zum Beispiel die sehr wesentliche Frage, bin ich noch Pazifistin?
Diese Gewissensfrage ist sehr bedrängend für mich geworden. Selbst wenn ich militärische Aktionen gegen Stellungen der Taliban billige, nehme ich die Tötung von Unschuldigen hin. Ich habe allerdings keinen Vorschlag dafür, wie diese Gruppe entmachtet werden kann. Und sie muss festgesetzt und vor ein Gericht gebracht werden. Ich habe den völlig utopischen Wunsch, den Terrorismus durch zivile Aktionen zu bekämpfen. Das heißt, Carepakete abwerfen, Hilfsmaßnahmen gegen Armut entwickeln, sozusagen eine Offensive an Hilfe starte, um dem Terrorismus den Nährboden z entziehen. Wenn ich aber weiß, dass das so vollkommen utopisch ist, dass es nicht geschehen wird, kann ich mich dann noch zurückziehen auf mein Gewissen, um mit mir im Reinen zu bleiben? Ganz gleich, was geschieht? Ich habe Resolutionen unterschrieben, gegen Militäraktionen. Ja, aber was dann? Wie hilflos ist das gute Gewissen: ich bin dagegen und darum ein guter Mensch? Kann ich mich damit zur Ruhe setzen? Diese Frage ist für mich nicht abgeschlossen bis heute.
Andere Fragen, innere Vorstellungen, Handlungsweisen haben sich verdeutlicht dahingehen, meine Bemühungen um eine friedvollere, positive, genügsamere, hilfreichere Lebenshaltung noch viel grundsätzlicher zu machen. So komme ich auf meine Anfangssätze zurück, es hat sich nicht unbedingt etwas geändert für mich, aber ich sehe, das ich entschiedene leben muss."

Marlene K. (50 Jahre):

"In mir wachsen die Ängste vor bakteriellen und chemischen Anschlägen, nachdem ich von drei Milzbranderkrankungen in Amerika gehört habe. Ein Mensch ist sogar schon daran gestorben. Ich fühle Panik, aber auch Lethargie und eine gewisse Verlangsamung meines Leben. Praktisch hat sich eigentlich nicht verändert, aber trotzdem ist alles anders und nichts wird mehr so sein wie vorher."

Brigitte May-Hofmann (46 Jahre):

"Mein erster Gedanke an dem Tag war: ‚Nichts wird wieder sein, wie es war.' Es gibt Ereignisse im Leben, die eine neue Zeitrechnung einleiten. Dies war so eine Zeitmarke für mich.
Jetzt, mit einem gewissen Abstand, ist meine erst Erstarrung einer fast trotzigen Haltung gewichen. Nach dem Motto: Das Leben geht trotz allem weiter. Das sind wir uns allen und unserer Zukunft - insbesondere unseren Kindern - schuldig. Das was mich heute so betroffen macht, ist die Erkenntnis, wie ge- und zerbrechlich unsere Welt ist - sei es in wirtschaftlicher, technischer oder gesellschaftlicher Hinsicht. Ich werde noch bewusster leben...!"

Maria Franke (87 Jahre):

"Man hat mitgefühlt mit den Angehörigen. Und man denkt immer mal wieder daran. Man liest ja oft genug in den Illustrierten darüber. Und wenn ich irgend etwas Lustiges, eine Veranstaltung oder Ähnliches sehe, dann denke ich schon, dass man es nicht übertreiben sollte wegen der schrecklichen Ereignisse."

Christa Bertz, Gabriele Merziger

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