Werden Sie auch eine
Das Auto läuft. Die beiden Süßen sicher verstaut auf der Rückbank, der Stadtplan aufgeschlagen auf dem Beifahrersitz. Geld, Papiere, alles dabei. Gerade habe ich noch einmal angerufen, die Rutschbahn ist noch nicht verkauft. Also nichts wie hin! Ich setze den Blinker und reihe mich in den Verkehr ein ....
"Mama?" Niki von links hinten.
"Mhm?"
"Darf der Kevin heute zu uns kommen?"
"Ich denke, ihr habt euch gestritten?"
"Ja, aber das war übergestern!"
Alisa kichert. "Üüüübergestern..." Noch
nie habe ich so ein lange "ü" gehört.
"Niki, das heißt doch voooorgestern!"
Niki brummt beleidigt.
"Niklas, wenn wir die Rutschbahn kaufen können, müssen
wir nachher den Dachgepäckträger montieren und sie zu sammen
abholen. Da ist für Kevin keine Zeit."
Schweigen.
"Mama?" Rechts hinten Alisa.
"Mhm?"
"Was ist eigentlich Zeit?"
Warum trifft es immer mich? Was fährt nur in unsere Kinder, wenn
wir gemeinsam in diesem kleinen, rollenden Gehäuse unterwegs sind?
Auf geheimnisvolle Weise scheint der Aufenthalt im fahrenden Auto die
infantile Denkmotorik in angeregte Schwingungen zu versetzen. Und ich
finde mich, unterwegs von A nach B, in einem Quiz wieder, das uns Kopf
und Wagen kosten kann...
"Zeit ist zum Beispiel, wenn ein Tag vergangen ist, weil die Erde
sich einmal um sich selbst gedreht hat."
Nicht schlecht. Die Erde dreht sich. Das Rad des Fortschritts dreht
sich. Der Ball ist rund und das Spiel dauert...
War das nicht die Straße, die wir suchen? Ich schaue verzweifelt
in den Rückspiegel und ramme fast einen Mülleimer, der zu
dicht am Fahrbahnrand steht.
"Mama?"
"Mhm?"
"Warum merken wir nicht, wie sich die Erde dreht? Das muss doch
ganz schön schnell gehen, einmal am Tag ganz rum!" Es gibt
kein Entkommen, festgeschnallt im eigenen Fortbewegungsmittel. Wenn
ich nicht die richtige Antwort finde, lösen die beiden hinter mir
den Schleudersitz aus und ich werde ins übergestrige Nichts katapultiert.
"Weil die Erde so groß ist", erkläre ich und male
mir aus, wie ich nacher, glücklich zu Hause, Alisas Gymnastikball
und einen Tennisball mit einem Aufkleber markieren werde. Wenn wir sie
durch das Wohnzimmer rollen lassen, werden sie sehen, wie viel langsamer
sich die Markierung auf dem großen Ball bewegt. Nikis Stimme dringt
in meine Gedanken: "Sie Welt ist ganz rund, wie ein Ball, und sie
sitzt auf einem Stängel, und den Stängel hält Gott in
der Hand."
Konfessionelle Kindergärten haben irgendwie etwas Entwaffnendes.
"Weißt du, was der Niki gestern gesagt hat?" Alisas
helle Stimme triumphiert schon im Vorgefühl des Kommenden.
"Na, raus damit!"
"Er hat gesagt, er möchte so gern, dass die Molly Hundebabies
kriegt, weil er sehen will, wie sie ihre Eier bewacht!"
Und dann schüttelt sie sich aus vor Lachen über ihren kleinen
Bruder. Ich sehe im Rückspiegel, wie Niki angstrengt aus dem Fenster
schaut. Pfeifen kann er noch nicht.
"Niki, du weißt schon, dass Hundekinder nicht in Eiern ausgebrütet
werden, sonden im Bauch ihrer Mütter wachsen, oder?" -
"Ja, schon," brummelt er. Und dann: "Hast du auch ein
Loch unter dem Busen gehabt, als Alisa und ich aus dir rausgekommen
sind?"
Ich atme erst mal tief durch. Alisa fragt: "Kriegt die Molly jetzt
Babies?"
Ich weiß überhaupt nicht mehr, wo wir sind. Diesen Teil der
Stadt habe ich noch nie vorher gesehen.
"Nein, dazu müsste sie erst mit einem Hundemännchen zusammenkommen."
"Warum braucht sie überhaupt noch einen Hund dazu? Sie kann
doch ihre Kinder ganz alleine kriegen!"
Oh, Auto! Warum werden nicht alle Konferenzen der Welt in fahrenden
Autos abgehalten?
"Weil die Welpen die Erbanlagen von einer Mutter und einem Vater
brauchen. Bei Molly und Lupo könnten die Hundekinder zum Beispiel
das Fell vom Lupo und die Größe von der Molly erben. Bei
euch ist das auch nicht anders. Ein Teil von euch stammt vom Papa und
ein Teil von mir. Du kannst ja mal darüber nachdenken, von wem
du dein helles Köpfchen hast, Alisa!"
Ich spüre ihre Empörung förmlich durch die Lehne des
Fahrersitzes vibrieren.
"Mein Kopf ist ganz allein meiner!" wütet sie.
"Das, was du daraus machst, ist wirklich ganz allein deine Leistung."
In meinen Schläfen beginnt es zu pochen.
"Dein Kopf ist dir von Gott gegeben worden", wirft Niki lässig
ein.
Selbst Alisa schweigt für einen Augenblick.
"Da war sie!"
Ich stoße rückwärts in eine Seitenstraße und biege
links ab.
"Alisa, hilf mal mit, nach der Hausnummer zu suchen! Wenn alles
klapt, habt ihr bald eure Rutsche!"
"Mama?"
"Mhm?"
"Sei mir nicht böse, aber, wenn wir gar keine Rutschbahn mehr
wollen?"
"Was? Am Wochenende haben wir doch noch darüber geredet, und
ihr wolltet sie unbedingt für die neue Spielecke im Garten!"
"Mama!" Alisa seufzt, als würde ihr demnächst der
Geduldsfaden reißen. "Das war vorgestern..."
Sabine Kumm