Werden Sie auch eine
Richtige Freundinnen waren sie eigentlich nie gewesen. In der Schule hatte ein eigenartiges Verhältnis zwischen ihnen bestanden, obwohl sie so gegensätzliche Naturen waren, oder vielleicht auch gerade deshalb.
Annabella - die »schöne Anna« - trug ihren Namen zu Recht: Sie war hübsch und wohlproportioniert, wenn auch für manchen Geschmack etwas zu pummelig. Ihr Intelligenzquotient war eher durchschnittlich, aber ihr Charme und ihre Schlagfertigkeit machten das mehr als wett: Sie war der Liebling fast aller Lehrer und auch der meisten Mitschülerinnen. Keiner verdarb es gern mit ihr, weil sie ein loses Mundwerk hatte, das sie wie eine Waffe einsetzen konnte.
Marlene dagegen war ein unauffälliges Mädchen, aber ehrgeizig und klug. Auf fast alle Fragen wusste sie eine Antwort. Sie war sehr belesen, und die anderen bezeichneten sie spöttisch-ehrfürchtig als »wandelndes Lexikon«. Dabei blieb sie jedoch fast immer ein Mauerblümchen und stellte sich nie in den Mittelpunkt. Sie bewunderte Annabella und ließ sich willig von ihr ausnutzen. Ob es um Hilfe bei den Hausaufgaben oder bei Klassenarbeiten ging: Annabella profitierte von dieser Anhänglichkeit wesentlich mehr als Marlene selbst. Ansonsten aber ging Annabella der stillen Mitschülerin lieber aus dem Weg. In deren Abwesenheit bezeichnete sie sie sogar als »Intelligenzbestie« und »Brillenschlange«, denn Marlene war kurzsichtig und trug eine Brille mit Nickelgestell, was sie nicht gerade anziehender machte. Inzwischen hatte Marlene die Brille längst durch Kontaktlinsen ersetzt.
Heute dachte Marlene beinahe wohlwollend an die Schulzeit und auch an Annabella zurück, denn vieles in ihrem Leben hatte sich positiv verändert. Sie stand nicht mehr auf der Schattenseite. Wahrscheinlich war sie sogar von allen Mitschülerinnen die erfolgreichste. Die meisten anderen waren verheiratet, hatten ihren Beruf nach kurzer Zeit aufgegeben - sofern sie überhaupt eine Ausbildung gemacht hatten - und ein, zwei Kinder erzogen. Marlene war als Dolmetscherin und Übersetzerin beim Europa-Parlament tätig und verdiente eine Menge Geld, das sie allerdings mit vollen Händen für teure Kleidung, Kosmetika und häufige Friseurbesuche wieder ausgab. Viel blieb nicht davon übrig, zumal sie eine teure Wohnung gemietet hatte und ein relativ großes Auto fuhr. Da sie aus bescheidenen Verhältnissen stammte und jahrelang mit jedem Pfennig hatte rechnen müssen, genoss sie jetzt das luxuriöse Leben, das sie führte, umso mehr, auch wenn es teuer erkauft war. An die vielen Überstunden und den chronischen Mangel an Freizeit und Freunden durfte sie natürlich nicht denken.
Weshalb gerade Annabella so großen Wert auf ein Wiedersehen gelegt hatte, wunderte Marlene ein bisschen, denn im Nachhinein hatte sie natürlich erkannt, dass sie nie Annabellas Freundin gewesen, sondern von ihr nur benutzt worden war. Aber sie war ja nicht nachtragend. Das Treffen fand im Café Kronzucker statt, dem teuersten Café der ganzen Stadt. Marlene hatte darauf bestanden; sie wusste, dass Annabella sich das eigentlich nicht leisten konnte: Deren Mann war nur ein kleiner Angestellter, Annabella selbst nicht berufstätig, und wenn sie auch ein Reihenhaus gekauft hatten, so war es ganz sicher noch nicht bezahlt, und sie mussten mit dem Geld rechnen. Vielleicht waren es kleinliche Rachegelüste, die Marlene bewogen hatten, diesen exklusiven Treffpunkt auszuwählen.
Marlene war schon da, als Annabella kam. Sie stand auf und kam ihr entgegen. Einen winzigen Moment standen sie sich gegenüber und versuchten gegenseitig in ihren Gesichtern zu lesen. Dann umarmten sie sich und küssten sich auf die Wangen, wobei sie in einem Atemzug ausriefen: »Gut siehst du aus!«
Sie setzten sich an den kleinen Tisch, an dem Marlene zuerst gesessen
hatte, und betrachteten sich gegenseitig.
»Mein Gott, ist die alt geworden«, dachte Annabella im gleichen Moment,
als es Marlene durch den Kopf ging: »Die ist ja noch dicker, als ich
sie in Erinnerung hatte!«
Sie sahen sich lächelnd, aber auch aufmerksam taktierend an. Marlene
griff zu ihrer Packung Damenzigaretten, Annabella lehnte eine angebotene
Zigarette ab: »Ich rauche nicht.«
»So sieht sie auch aus«, dachte Marlene. »Sie könnte allenfalls für
Waschmittel Reklame machen. Clementine oder Frau Saubermann, aber nie
eine erfolgreiche, emanzipierte Frau!«
»Dass diese Sorte Frauen immer glauben, sie seien emanzipiert, nur weil
sie in der Öffentlichkeit rauchen dürfen«, war Annabellas Gedankengang.
Stattdessen genehmigte sie sich einen Kognak zum Kaffee, was Marlene
wegen der Kalorien ablehnte.
»Bei der kann es sowieso nichts verderben«, ging es ihr mit einem Blick
über die leicht füllige Figur der Schulfreundin durch den Kopf.
Was zuerst nur mit Gedanken begonnen hatte, wurde allmählich mit wohl
dosierten, spitzen Worten fortgesetzt:
»Hast du immer noch deinen Schlankheits-Spleen?«, fragte Annabella leicht
spöttisch. »Das grenzt ja bei dir schon an Magersucht!«
»Weißt du, wenn man berufstätig ist, muss man schon etwas auf seine Figur
achten«, belehrte Marlene sie kühl, zögerte und fuhr fort: »Übrigens
würde dir ein bisschen mehr Disziplin bei der Kalorienaufnahme auch
nicht schaden!«
»Das fehlte noch«, meinte Annabella ungerührt. »Weißt du, ich fühle
mich ganz wohl, so wie ich bin, und das ist doch die Hauptsache. – Übrigens
habe ich immer noch Normalgewicht, und ich achte darauf, dass es dabei bleibt. -
Bist du nicht ein bisschen zu dünn? Oder ist das bei dir krankhaft?«
»Ich bin kerngesund«, behauptete Marlene, »und außerdem fühle ich
mich auch wohl, so wie ich bin.«
Natürlich konnte sie nicht zugeben, dass sie sich nie richtig satt aß.
Dass sie andererseits manchmal wahre Heißhunger-Attacken hatte und sich
dann einfach nicht zurückhalten konnte. Anschließend musste sie drei
Tage lang noch mehr fasten als sonst, um die übermäßige Kalorienaufnahme
wieder zu kompensieren. Aber immerhin: Sie war stolz auf ihre jugendliche
Figur: sie konnte es mit jedem Teenager aufnehmen. Annabella dagegen!
Marlene stellte Nase rümpfend fest, dass die Freundin mindestens Kleidergröße
zweiundvierzig haben musste, eher mehr.
»Magere Frauen werden schneller alt«, behauptete Annabella. Sie sparte
nicht mit Zucker und Sahne im Kaffee, während Marlene den ihren ganz
schwarz trank.
»Doch, doch«, fuhr Annabella fort, als Marlene kopfschüttelnd
protestieren wollte, »schau mich an: bei mir findest du kein Fältchen im
Gesicht, von Falten ganz zu schweigen. - Aber bei dir! Um die Augen herum hast
du ganz schöne Krähenfüße - auch dein Make-up kann das nicht verdecken!«
Marlene wurde unter dem reichlich aufgetragenen Make-up eine Spur
blasser; ihr Mund verkniff sich ein wenig. Hatte sie tatsächlich vergessen,
wie boshaft und bewusst taktlos Annabella schon in der Schule gewesen
war? Wie sie mit dem unschuldigsten, harmlosesten Gesichtsausdruck spitze
oder giftige Bemerkungen von sich gab? Niemand hatte sich gern mit ihr
angelegt. Im Gegenteil: Sie hatten sie zur Klassensprecherin gemacht
und es ihr überlassen, sich mit den Lehrern herumzuschlagen.
Tief im Innersten musste Marlene zugeben, dass Annabella Recht hatte:
Ohne Make-up traute sie sich kaum aus dem Haus und gerade um die Augen
herum musste sie die dekorativ-kosmetischen Hilfsmittel doppelt so dick
auftragen.
»Trotzdem glaube ich, dass ich bei einem Vergleich zwischen uns beiden
nicht schlecht abschneiden würde - vor allem, was die Figur betrifft«,
erklärte sie, nachdem sie sich vom Schock der taktlosen Bemerkung erholt
hatte. Und sie holte auch gleich zum Gegenangriff aus: »Hat dein Mann
nicht immer für schlanke Frauen geschwärmt?«
Annabellas Augen blieben unbewegt, aber der Stachel saß. Da war noch
immer die Erinnerung an jene Party vor Jahren, auf der ihr Mann ausgiebig
und für alle sichtbar mit Marlene geflirtet hatte. Eine Zeitlang waren
die beiden sogar spurlos verschwunden gewesen. Hinterher hatte er behauptet,
sie hätten lediglich an der Bar gesessen, Sekt getrunken und sich sehr
gut dabei unterhalten. Bis heute wusste Annabella nicht, ob das stimmte,
und seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehen.
»Der liegt nicht gern auf Knochen, wenn du verstehst, was ich meine«,
sagte sie jetzt zynisch und fuhr in harmlosem Ton fort: »Was hast du schon
von deiner tollen Figur? Du kannst doch nicht ewig in dieser Teenager-Aufmachung
herumlaufen. Schließlich gehst du doch auch stark auf die Vierzig zu!«
Marlene schluckte wortlos und wütend an ihrem Kaffee und an der neuen
Spitze. »Für Oma-Modelle fühle ich mich eigentlich noch ein bisschen
zu jung«, erklärte sie dann, äußerlich gelassen, mit einem Blick auf
Annabellas bieder-hausbackene Aufmachung. An dieser prallten solche
Racheversuche jedoch einfach ab. Bevor sich Marlene dazu entschließen
konnte, dieses unerfreuliche Wiedersehen zu beenden, kam schon die nächste
Bosheit auf sie zu.
»Übrigens: hast du eigentlich immer noch dieses Verhältnis mit dem
Zeitungsfritzen, der sich nicht scheiden lässt?« »Seine Frau wollte sich
nicht scheiden lassen«, betonte Marlene, äußerlich sehr ruhig.
»Nein, ich habe diese Bekanntschaft beendet. - Außerdem ist er ein seriöser
Journalist, und der Ausdruck ‘Zeitungsfritze’ ist wohl nicht ganz
angebracht.«
»Seriööös«, wiederholte Annabella geringschätzig. »Na ja! Der hat
dich ganz schön an der Nase herumgeführt. Wo du doch sonst sooo intelligent
bist ...«
Marlene biss sich auf die Lippen. Die Erinnerung schmerzte. Jahrelang
hatte er ihr von seiner unglücklichen Ehe erzählt, und dass seine Frau
sich nicht scheiden lassen wollte. Dann hatte sie ihn eines Tages bei
einem Abendspaziergang getroffen, Arm in Arm mit einer Frau, turtelnd
wie ein junger Täuberich. Es war seine Ehefrau, wie sie dann erfuhr.
Sie konnten sich nicht ausweichen, und so war er gezwungen, sie vorzustellen.
Seine Frau war liebenswürdig, hübsch und charmant, und sie freute sich,
eine »Kollegin« ihres Mannes kennenzulernen. Sie hatte sie sogar in
die eheliche Wohnung eingeladen. Hinterher hatte Marlene jedes Mal den
Hörer aufgelegt, wenn er anrief, und die Tür nicht mehr geöffnet, wenn
er mit dem verabredeten Klingelzeichen läutete.
Annabella war jetzt beim dritten Kognak angelangt und ihre Zunge war
etwas schwerfälliger geworden. Marlene hatte den Eindruck, dass die
Freundin entweder vorher schon Alkohol zu sich genommen hatte oder aber
nicht viel vertrug.
»Sag mal, trinkst du eigentlich immer so viel Alkohol?«, fragte sie
scheinbar besorgt, mit wachsendem Interesse, weil sie jetzt endlich
eine Schwachstelle, einen Angriffspunkt an der anscheinend so robusten
Psyche der Freundin entdeckt hatte.
Annabella sah sich um und flüsterte dann, als fürchte sie Zuhörer: »Nur
zu bestimmten Zeiten. Man wird ein ganz anderer Mensch und kann den
Alltag hinter sich lassen. Solltest du auch mal probieren!«
Marlene wusste nicht, ob sie Mitleid oder Schadenfreude empfinden sollte.
Vielleicht war es eine Mischung aus beidem, was sie tatsächlich empfand.
Sie fühlte ihre Überlegenheit zurückkehren. Mein Gott, wie hatte sie
ihre verheirateten Freundinnen um Ehemänner und Kinder beneidet, auch
wenn sie das nie zugegeben hätte. Sie wollte keine feste Bindung eingehen,
hatte sie immer behauptet, so lange, bis sie es fast selbst glaubte.
Allmählich kam sie jedoch dahinter, dass bei ihren verheirateten Freundinnen
auch nicht alles Gold war, was glänzte. Der »Fall Annabella« schien
das zu beweisen. Schließlich war statistisch erwiesen, dass mehr Hausfrauen
alkoholabhängig waren als berufstätige Frauen.
»Du solltest dich ablenken, irgend etwas unternehmen«, empfahl Marlene.
»Nichts ist schlimmer als Langeweile!« »Was glaubst du, was ich
gerade in diesem Moment tue!«, rief Annabella aus, und ihre Augen funkelten
dabei. »Einmal im Monat ist Kaffeeklatsch, jedesmal woanders. - Und
jedesmal eine besondere Gaudi!«
»Wird dabei auch Alkohol getrunken?«, erkundigte sich Marlene
interessiert.
»Klar! - Aber nicht, was du denkst. Wir sind doch keine Alkoholikerinnen!
Und dann nur vom Feinsten. Wir wissen, was gut ist!«
Annabella hatte sich noch einen Kaffee bestellt und wurde zunehmend
lebhafter. Marlene kam der Verdacht, dass die alkoholschwere Zunge nur
simuliert gewesen war, denn Annabella sprach jetzt wieder ganz normal.
»Du weißt gar nicht, was dir entgeht bei deiner Lebensweise«, schwärmte
diese plötzlich. »Wir sind unabhängig, können gehen und kommen, wann
wir wollen, und wenn uns eine Arbeit nicht passt, lassen wir sie einfach
liegen. - Und einmal im Monat ist Kaffeeklatsch! - Ehrlich, du bist
ein armes Schwein, trotz deines Geldes und deiner Figur! Was hast du
denn von deinem Leben? Nur Arbeit, kaum Freizeit, und nicht mal ’nen
Mann, der deine Figur bewundert. Ehrlich, ich möchte nicht mit dir tauschen.
Keine von uns möchte das!«
Marlene war nicht klar, warum Annabella immer in der Pluralform sprach.
Aber das Gespräch wurde ihr langsam peinlich, zumal Annabella ziemlich
laut redete und immer mehr Leute zu ihnen hersahen. Das Café hatte sich
nach und nach - von ihr unbemerkt - immer mehr gefüllt. Die Tische in ihrer Nähe
waren alle mit Frauen mittleren Alters besetzt; das »Hausfrauenimage«,
wie Marlene es gern nannte, war ihnen an der Nasenspitze abzulesen.
Ihr wurde albtraumhaft bewusst, dass tatsächlich alle zu ihr herstarrten.
Sie kam sich ausgezogen und durchleuchtet vor und fühlte sich plötzlich
sehr fehl am Platz. Sie begriff vage, dass das etwas mit dem von Annabella
mehrfach erwähnten Kaffeeklatsch und der »besonderen Gaudi« zu tun hatte.
Und dann entdeckte sie die Videokamera, die auf sie gerichtet war ...
Sie beschloss, den Spuk zu beenden und kramte hastig in ihrer Krokotasche
nach dem Geldbeutel.
»Du willst doch nicht etwa schon gehen?«, fragte Annabella lauernd.
»Wo wir uns doch so lange nicht gesehen haben, und wo es jetzt erst
richtig interessant wird ...«
»Ich habe noch eine andere Verabredung«, log Marlene, aber es war ihr
egal, ob es glaubhaft klang oder nicht. Nur rasch fort aus diesem Käfig,
in dem sie sich vorkam wie ein zur Schau gestellter exotischer Vogel.
Sie winkte der Kellnerin, und Annabella sagte, als diese am Tisch erschien,
hämisch: »Das Fräulein möchte zahlen!«
Die anderen Frauen kicherten; Marlene wagte nicht aufzusehen und war
den Tränen nahe. Das »Fräulein« klang wie ein Schimpfwort in ihren Ohren.
Wie lange hatte sie in ihrer beruflichen Laufbahn darum ringen müssen,
als »Frau« angesprochen zu werden, mit entsprechendem Vermerk in ihrer
Personalakte und auf allen sonstigen Papieren.
»Das Fräulein hat keinen Mann abgekriegt!«, sollte diese Anrede bei
Frauen in nicht mehr ganz jugendlichem Alter bedeuten. Ausgerechnet
von Geschlechtsgenossinnen, von »Heimchen am Herd«, musste sie sich
nun demütigen lassen.
Nachdem sie ihren Kaffee bezahlt hatte, stand sie auf, ließ einige Münzen
auf den Tisch fallen und sagte, mühsam lächelnd: »Hier, eine kleine
Spende für euren nächsten Kaffeeklatsch. So wie ihr ausseht, habt ihr
euch heute doch sicher total verausgabt!« Sie verließ das Café, ohne
sich zu verabschieden und ohne sich umzusehen. Es war nur eine winzige
Genugtuung, dass sie es diesen kleinbürgerlichen, sensationslüsternen
Kaffeetanten doch noch gegeben hatte, auch wenn es nicht ausreichte,
ihren Groll, ihre Enttäuschung und ihre Scham vollständig zu betäuben.
Das schallende Gelächter, das sie noch lange zu hören glaubte, saß wie
ein Stachel in ihr und würde noch eine Weile an ihr nagen.