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Julia Solbach mit ihrer Familie

Fotos: Solbach

Foto: Gabriele Merziger

In eine neue Haut schlüpfen

- so ist das Leben im Ausland für Julia Solbach -

Ich bin gerade 38 Jahre alt geworden. Mein Leben als Kind hat sich im lokal eng begrenzten Raum rings um die Orangerie abgespielt. Meine erste Schule war die Bessunger Knabenschule, dann ging ich aufs Lichtenberg-Gymnasium, wo ich 1981 das Abitur machte. Erste Lust aufs Leben im Ausland machte mir mein Vater, der immer davon schwärmte, dass ich mit einem Schüleraustausch für eine Zeit nach England sollte. Dazu kam es nie, was ich damals gar nicht bedauerte. Sehr spontan bin ich nach dem Abitur als Au-pair nach Frankreich gegangen. Damit begann eine Reihe von Auslandsaufenthalten. Rückblickend finde ich das sehr erstaunlich, da es in meiner Familie dafür kein Beispiel, sondern nur den planlosen Enthusiasmus meines Vaters gab.

Zurück aus Frankreich studierte ich in Darmstadt Geschichte, Volkswirtschaft und Recht und schloß 1986 mit dem Magister Artium ab. Um den langweiligen Umstand aufzuwiegen, dass ich an meinem Heimatort studierte, verbrachte ich im Rahmen eines Austauschprogrammes ein Jahr meines Studiums an der State University of New York in Buffalo, USA. Dieses Jahr hat mich sehr geprägt. Nach Frankreich in eine Familie zu fahren, um dort ein Jahr zu arbeiten, war schon ein großer Schritt für mich, aber immer noch eine relativ behütete Situation. Nach USA an eine fremde Uni zu gehen, in Darmstadt Familie, Freunde und meinen langjährigen Freund zurückzulassen und meine erste (!) Flugreise zu einem unbekannten Ziel anzutreten, fühlte sich damals wie ein echtes Abenteuer an.

Studieren und Arbeiten war nach USA nie wieder dasselbe wie vorher. Das Arbeitspensum war enorm und verlangte viel Disziplin.Das Feedback über die ProfessorInnen, das gleichzeitig Qualitätskontrolle war, war ein großer persönlicher Ansporn, nicht zuletzt, weil ich mich persönlich und emotional aufgehoben fühlte.

Nach dem Studium hatte ich das Glück beim Darmstädter Echo im Archiv arbeiten zu können. Wunderbare Kollegen und eine interessante Tätigkeit hielten mich dennoch nicht in Darmstadt. Ich bekam ein Promotionsstipendium an der Freien Universität Berlin, wo sich ein Graduierten-Kolleg inhaltlich eng mit Fragen beschäftigte, die ich in meiner Magister-Arbeit behandelt hatte. Die Doktorarbeit habe ich - trotz vier Jahren intensiver Arbeit - leider nie fertiggestellt, aber wiederum beinhaltete das Studium einen langen Aufenthalt in den USA.

Als mein jetziger Mann in Düsseldorf eine Stelle annahm, bin ich mitgegangen. Durch eine zufällige Begegnung mit einem alten Freund kam ich »mit einem Bein» ins Handelsblatt und arbeitete mich dort zur Projektleiterin für einen Internet-Stellenmarkt hoch.

Mein bisher längster »Job» hat mich nur zufällig nach London geführt. Sie heißt Charlotte und ist drei Jahre alt. Vor acht Monaten hat sie durch Luisa Verstärkung erhalten. Mein Mann wollte gerne im Ausland arbeiten und ich hatte nichts einzuwenden, eine Familienpause im Ausland einzulegen.

Nicht in Deutschland zu leben ist ein bisschen wie eine zweite Natur geworden. Nicht dass es mir in Deutschland nicht gefällt – mir gefällt vieles und vieles nicht. Aber ich bin zu neugierig und offenbar auch zu wenig verwurzelt, um Möglichkeiten ins Ausland zu gehen, abzuschlagen. Wenn ich darüber nachdenke, warum ich immer wieder ins Ausland gehe, stelle ich fest, dass ich bereit bin, vieles hinter mir zu lassen und woanders neu anzufangen. Das ist ein bisschen wie in eine neue Haut schlüpfen und macht offenbar süchtig.

Wir leben im angeblich (und auch tatsächlich) weniger attraktiven Süden Londons, aber East Dulwich »is the place to live». Wohnen ist noch bezahlbar, Parks und Grünflächen gibt es viele, ein kleines Stadt-Zentrum ist zu Fuß erreichbar und hat einiges zu bieten an Geschäften, Cafes etc. Um die Ecke im idyllischen und exklusiven Dulwich Village gibt es die älteste öffentliche Gemälde-Galerie Groß Britanniens (sehr sehenswert) und alte private Schulen, nur neue Autos und schicke junge Leute. Um die andere Ecke in Peckham werden zehnjährige Kinder von anderen Kindern am helllichten Tag erstochen. Weiße sind hier eindeutig die Minderheit und obwohl wir an jedem Monatsende aufs leere Konto schauen, fühle ich mich dort jedes Mal unverdient wohlhabend. Zu oft gönne ich mir dieses Gefühl allerdings nicht, dafür mischt es sich zu sehr mit mulmig und deprimiert.

Und das London der Touristen? Da müsst Ihr jemand anderen fragen. Mit Kinderwagen kommt man hier noch nicht einmal in den Bus, von der U-Bahn ganz zu schweigen. Und wem würde es Spaß machen, seine Kinder neben uralten Taxi- und Busauspuffrohren her zu schieben? Nach ein paar Versuchen habe ich aufgegeben und beschlossen, London als Tourist zu besuchen, wenn die Kinder älter sind. Das U-Bahn-System Londons ist hoffnungslos überaltert und seit Monaten wird darum zwischen Major und Regierung gestritten, was die beste Methode ist, an Geldgeber für die notwendige Erneuerung zu kommen. Und dies ist nur ein Beispiel für die Transport-Malaise, die in GB überall anzutreffen ist. Vor kurzem habe ich in der »Times» eine Aufstellung der zwanzig lebenswertesten (Groß-) Städte der Welt gesehen. Wenn ich mich richtig erinnere, stand London an letzter Stelle. Dies ist sicher gerechtfertigt, wenn man gute Luft, easy transport, ausreichende lokale öffentliche Dienstleistungen, wie Schulen und Kindergärten etc. als Bemessungsgrundlage nimmt. Aber wie will man, was hier fehlt, aufwiegen gegen das British Museum, die Tate und die Tate Modern, die Universitäten, die Theater, die Architektur usw.? Diese sind einzigartig.

Und in einer knappen Stunde Auto- oder Zugfahrt ist man in der schönsten aller idyllischen »countrysides»! Die Schönheit der Kultur-Landschaft lässt einen die katastrophalen Krisen der Landwirtschaft auch als Städter schmerzlich miterleben. Ich schreibe dies gerade, als die Krise der Maul-und Klauenseuche das ganze Land im Griff hat. Wir versuchen, soviel wie möglich zu sehen und kennen zu lernen, wann immer wir ein bisschen Zeit haben. Das tägliche Leben in Londons suburbs kreist – wie in vermutlich allen Vorstädten der Welt – um Job und Familie und den alltäglichen Trott.

Ein Aspekt des Lebens im Ausland ist die ständige Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. Als Deutsche kann ich niemals unbefangen im Ausland leben. Zum Teil liegt das daran, dass mir selbst bewusst ist, wie viel Schmerz, Leid und Tod Deutsche in die Welt getragen haben. Während aber in den USA Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg nur gelegentlich Thema waren, ist hier in Großbritannien die Präsenz der Vergangenheit sehr viel stärker. Zu Beginn nahm ich nur die verzerrte und offensichtlich böswillige Deutschen-Darstellung in Witzen und Teilen der Populärpresse war. Dann war ich überrascht über die große Anzahl der sehr guten und informativen Sendungen zu diesen Themen im englischen Fernsehen. Ich war sehr erstaunt über die jährlichen, sehr populären Gedenkfeiern zum Ersten und Zweiten Weltkrieg, die jedes Mal mit großem Aufwand und nationalem Engagement gefeiert werden.

Leben im Ausland gibt mir für viele Dinge eine neue Perspektive, mein Heimatland zu betrachten. Eine solche neue Perspektive hat sich mir bei einem Thema erschlossen, das ich früher ausschließlich positiv betrachtet habe, Europa. Sprachlich wird diesseits des Ärmelkanals von »Europa» und »England» gesprochen, das finde ich nach wie vor fremd. Von ihrer Insellage aus haben die Briten ein gänzlich anderes Verhältnis zur europäischen Einigung als die Mehrzahl der Deutschen. Sämtliche europäischen Einrichtungen werden hier äußerst skeptisch unter die Lupe genommen. Die Engländer identifizieren sich stark mit ihrer gewachsenen Verfassung und dem »common law». Sie möchten diese nicht gegen eine unbekannte und unkontrollierbare europäische Gesetzgebung eintauschen, von der sie fürchten, dass sie ihre Demokratie und ihr politisches System aushöhlen wird. Der Umstand, dass die europäische Gesetzgebung etwa in den Bereichen Soziales, Arbeit und Umwelt in der Regel (und zum Teil weit) über die Standards hier hinausgeht und Groß Britannien immerzu hinterherhinkt und europäische Normen gezwungenermaßen und unter großem finanziellen Aufwand übernehmen muss, macht »Europa» auch nicht gerade populär. Nebenbei sei bemerkt, dass die Iren und Schotten zum Teil mit guten Gründen, zum Teil aus reinem Antagonismus zu England, zu Europa eine positivere Haltung einnehmen. Wie stark der historische Antagonismus zwischen Schottland und England immer noch ausgeprägt ist, konnten wir feststellen, während wir in Glasgow, Schottland wohnten, wo auch unsere älteste Tochter geboren ist.

Sehr typisch für England ist eine Einrichtung, die sich »Private Gardens for charity» nennt. Engländer sind zu recht bekannt für ihren Garten- Enthusiasmus und es gibt hier viele wunderschöne private (und öffentliche) Gärten. Faszinierend daran finde ich nicht nur die Selbstverständlichkeit, mit der die Engländer ihre Gärten der Öffentlichkeit öffnen. Charity, mit Wohltätigkeit schlecht übersetzt, spielt in England eine große Rolle, da der Staat traditionell eher zurückhaltend in der Fürsorge war und sich dies kulturell bis heute widerspiegelt. Obwohl es große Armut gibt und die Klassengesellschaft in England noch viel deutlicher erhalten ist als in Deutschland, gibt es gleichzeitig einen Gemeinsinn, der sich in vielen lokalen Projekten und Initiativen darstellt. Auch Kirchen und einzelne Gemeinden haben hier einen ganz ausgeprägten Gemeinsinn. Dies kann man zum Teil damit erklären, dass es in England zwar eine Staatskirche gibt, die aber nicht über Kirchensteuer wie in Deutschland finanziert wird. Kirchenbesuche in britischen Kirchen fand ich bisher immer spirituell anregend und unterhaltend, was in Deutschland eine rare Ausnahme ist.

Die Frage was ich vermisse, ist leicht beantwortet: meine Familie und Freunde. Es gibt zwei Bereiche, die zeigen, dass ich hier nicht ganz heimisch bin. Zum einen habe ich relativ viel Kontakt zu anderen Deutschen – vorrangig über eine deutsche Mütter- und Kindergruppe. Noch immer finde ich ein Gespräch mit Deutschen entspannter und häufig informativer. Dies liegt meiner Ansicht nach nicht an der Sprache, sondern an nonverbaler Kommunikation und Signalen, die ich in einem deutschen Kontext besser einordnen und bewerten kann. Zum anderen hat mir das Nachdenken über die Fragen von Heimweh gemacht: Wäre es nicht schön ganz verwurzelt zu sein und vielleicht immer noch in Darmstadt zu leben? Wir haben zwar nicht vor dauerhaft hier zu bleiben und wollen wieder nach Deutschland zurück. Darmstadt wird unsere nächste Adresse aber sicherlich nicht heißen.

Julia Solbach / Gabriele Merziger

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