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MATHILDE

Uschi Zimmermann

Schöne alte Häuser, völlig zerfallen

Ausflug in den Winterwald

Typische Sommerszenerie auf einer Wolgainsel

Fotos: Uschi Zimmermann

Russland ist Anders …

Das ist wohl das einzige, was ich über dieses Land sagen kann, ohne etwas Falsches zu behaupten. Seit fast drei Jahren lebe ich nun schon - um es ganz korrekt zu formulieren - in der Russischen Föderation.

Wenn es für mich überhaupt eine Grunderfahrung, eine verlässliche Aussage über dieses Land gibt, dann ist es diese: Russland ist faszinierend, widersprüchlich, fremd und doch unerwartet nah, abstoßend und zugleich liebenswert, zuweilen angsteinflößend und unberechenbar, voller spannender Kontraste also. In jedem Fall aber wird Russland durch unsere Medien sehr stark negativ und mit Vorurteilen behaftet dargestellt. Russland hat auch mich in seinen Bann gezogen. Ich fühle mich bereichert durch die Menschen, die ich hier kenne und die ich schätzen gelernt habe, ich empfinde Wärme bei der mir entgegengebrachten Wertschätzung, Dankbarkeit, Freude und Fröhlichkeit.

Zurück zu dem wohl hervorstechendsten Merkmal, dem Kontrastreichtum. Ein Beispiel: Ich lebe in tiefer russischer Provinz und zugleich in einer Millionenstadt! Saratow liegt 850 km südöstlich von Moskau an dem Fluss Wolga, der eher den Eindruck eines Sees macht, die Wolga ist hier 3 km breit. Obwohl auf demselben Breitengrad wie Dortmund ist der Sommer hier knallheiß mit bis zu +40° C, der Winter mit bis zu -30° C kalt. Die beiden kürzesten aber unerträglichsten Jahreszeiten sind die Übergänge von Winter zu Sommer und umgekehrt, mit entsetzlichem Dreck, knöcheltiefem Schlamm und Matschwasser, das mangels Straßenkanalisation nicht abfließen kann.

Niemand denke über die eigenen Geografiekenntnisse Schlechtes, sofern der Name Saratow völlig unbekannt sein sollte. Wenn man die am gegenüberliegenden Wolgaufer gelegene Stadt Engels dazu rechnet, dann leben hier 1,3 Millionen Menschen, aber diese Menschen gab es bis zum Ende der Sowjetunion offiziell nicht: Saratow war eine sogenannte »Geschlossene Stadt«. Zu Sowjetzeiten produzierte hier die Rüstungsindustrie, insbesondere der Flugzeugbau, streng abgeschirmt vom übrigen Land und ganz besonders vom (westlichen) Ausland. Die Stadt war auf keiner Straßenkarte, in keinem Atlas eingezeichnet, sie wurde bei Volkszählungen nicht mitgezählt, es gab keine überregionalen Verkehrsverbindungen, die ohne spezielle militärische Genehmigungen benutzt werden durften, und niemand durfte in Saratow Besuch empfangen. Wenn es doch (unerwünschte) Kontakte zu Verwandten oder Freunden in anderen Städten gab, mussten sich die Saratower EinwohnerInnen in irgendeiner dritten Stadt weit weg treffen.

Und wie hat es mich ausgerechnet hierher verschlagen, eine Darmstadt-Dieburgerin? Nun, die Sowjetunion ist aufgelöst, Saratow ist keine geschlossene Stadt mehr, und die Rüstungsindustrie hat (welch gutes »Nebenprodukt« dieses Zusammenbruchs) natürlich auch keine Aufträge und Arbeit mehr für die Menschen. Es wurde also von der neuen Regierung ein Investor gesucht, der bereit ist, in ein Risikoland wie Russland zu gehen und unter schwierigen und unsicheren Bedingungen Geld zu investieren. Für die technisch gut ausgebildeten Fachkräfte sollten langfristig Arbeitsplätze entstehen, und zwar in einem Wirtschaftszweig, der zukunftsträchtig ist und hilft, die Wirtschaftskraft Russlands aufzubauen, den Lebensstandard der Menschen zu heben und damit eine Lebensperspektive aufzuzeigen. Dieser Investor ist die Firma Bosch, die geplanten Produkte sind die Komponenten für die Kfz-Abgasreinigung, und ich? Ja, ich bin die Ehefrau des Firmenleiters von Bosch-Saratow.

Der Schock vor vier Jahren war groß, als mein Mann mit diesem beruflichen Angebot nach Hause kam. Beide noch sehr zögerlich, nahmen wir aber die in solchen Fällen immer angebotene »Schnupperreise« wahr, es folgte noch ein Jahr der Überlegungen und Abwägungen, aber sie mündeten schließlich in den zu gleichen Teilen getragenen Beschluss »Das probieren wir! «. Wir fühlten uns beide stark genug, um von einem gesicherten Plateau unseres Lebens für einen Zeitraum von etwa fünf Jahren einen solchen Schritt zu wagen.

Nach 22 Jahren Lehrerinnentätigkeit auszuscheiden und in Saratow, in dieser Millionen-Provinzstadt ohne Deutsche Schule oder irgendeine andere Möglichkeit, meinen Beruf auszuüben, dort einfach nur so zu leben, das vielfach kritisierte und als minderwertig abgestempelte »Hausfrauendasein« zu führen..., der Gedanke war fremd und unangenehm, aber er faszinierte mich auch: endlich mal aus dem Füllhorn »Zeit« zu schöpfen, meinen Hobbys nachzugehen, Klavier zu spielen, Gitarre zu lernen, mich intensiv der russischen Sprache zu widmen, meine längst vergessenen Schulkenntnisse der russischen Geschichte aufzufrischen, alle die Bücher endlich mal zu lesen, die jede von euch bestimmt auch im Schrank stehen hat unter der Rubrik »wenn ich mal viel Zeit habe«, endlich mal keinen Zeitdruck, keine Hektik bei den paar Aufgaben und Pflichten zu verspüren, die ich dann nur noch haben würde!

Genau an dieser Stelle sind wir dann bei meiner ersten Fehleinschätzung und beim Titel: Russland ist anders!

Um es vorweg zu sagen, mein Herz schlägt inzwischen für dieses Land und die Menschen hier. Ich bereue meinen Schritt hierher überhaupt nicht, im Gegenteil, eher ist mir der Gedanke unangenehm, dass mehr als die Hälfte der prognostizierten Zeit bereits vorbei ist. Aber ich stelle fest, dass ziemlich wenig von meinen ursprünglichen Erwartungen bezüglich meines neuen Daseins hier, insbesondere bezogen auf die »Zeit«, auch so eingetroffen sind.

Meine Zeitfresser resultieren natürlich auch aus der Tatsache, dass wir hier ganz normal unter Russen leben, in einem Haus inmitten der Stadt mit russischen Nachbarn, also keineswegs in irgendeinem »Ausländerghetto«, das zumindest den Vorteil einiger Dienstleistungen und Infrastruktur böte. Insgesamt gibt es über Saratow verteilt ja nur noch drei andere deutsche Familien, und das war’s dann! Das größte Problem ist die Sprache: entweder ich kann Russisch sprechen, verstehen und (Kyrillisch) lesen oder ich kann nichts fragen, keine Antwort verstehen und kein Schild lesen. Ja, wo ist denn nun die Nekrassowa-Straße (Yl. Hekpacoba, hätten Sie es erkannt, liebe Mathilde-Leserin?)? Es ist absolut aussichtslos, auf der Straße einen Menschen treffen zu wollen, der eine Fremdsprache auch nur einigermaßen beherrscht.

Bestimmte Dinge des täglichen Lebens gibt es reichlich, manche selten, z.B. Klopapier oder Küchenkrepp, und dann auch nur zu den Kilopreisen von Gold. Der Zyklus von Überfluss und Mangel ist leider nicht zuverlässig, es bleibt also immer spannend. Die Lebensmittelversorgung ist im Sommer überhaupt kein Problem, die Märkte sind prächtig, üppig und bunt, südländisch geprägt mit wahren Bergen von Melonen, Auberginen, Tomaten, Zucchinis, Paprikas. Das genaue Gegenteil dann im Winter: sehr, sehr selten frisches Gemüse, denn als Importware ist es unerschwinglich für Normalrussen. Sie müssen sich mit den selbst geernteten Rote Beten, Kartoffeln und Kohlköpfen begnügen, die sie in einer Art »Anbau« an die Wohnung eingelagert haben. Diesen Anbau als Balkon zu bezeichnen wäre vermessen, er gleicht eher einem an die Hauswand geklebten und vernagelten Bretterverschlag.

Als ein weiteres Beispiel für das Hinschwinden meiner vermeintlich vielen Zeit möge der Vorgang dienen, wie man hierzulande eine einfache Rechnung bezahlt. Da es kein ausgeprägtes und zuverlässiges Bankenwesen gibt, werden alle Dinge in Bargeld abgewickelt, von der Lohntüte in der Firma bis zum Bezahlen der privaten Telefonrechnung. Eine beliebte Frage von mir an meine russlandinteressierten Freunde lautet: Was mache ich, wenn es Winter ist und ich in dem zu unserer Wohnung gehörigen Blechkästchen unten im Flur ein Zettelchen finde, das eine Telefonrechnung darstellen soll, die bezahlt werden muss? Antwort: Ganz einfach, ich gehe an meinen Kleiderschrank, ziehe mich erst mal aus, ziehe dann Ski-Unterwäsche und noch diverse Lagen darüber an, gehe an eine Schublade, in der aus Deutschland mitgebrachte DM liegen, nehme einen 100 DM-Schein, meinen deutschen Pass mit der russischen Registrierung und dem Visum drin, gehe zu einer Wechselstube und stelle mich in die Schlange, meist im Freien. Aus dem kleinen, aber gut gesicherten Büdchen werden dann – wenn diverse Formulare ausgefüllt, die Dokumente kontrolliert und alle Passdaten in ein Buch übertragen sind (wofür das gut sein soll, bleibt Geheimnis der russischen Bürokratie) -, dann werden endlich die Rubel rausgereicht.

Mit denen gehe ich dann ein paar Straßen weiter auf ein Amt, von dem ich inzwischen weiß, dass ich dort – mit Radio Eriwan gesprochen – im Prinzip meine Telefongebühren bezahlen kann. Das ganze Unternehmen ist deswegen prinzipieller Natur, weil dort die Schlange zu lang sein könnte, um sie bis zur Mittagspause abzuarbeiten (auch die Zeiten der Mittagspause sind prinzipieller Natur und nur grob abzuschätzen), und dann schließt das Amt eben für zwei Stunden. Oder es findet unvermittelt eine »technitschiski pereriv«, also eine technische Pause statt, das ist wohl eine liebevolle Umschreibung für die Tatsache, dass die Registrierkasse kaputt gegangen ist. Eine weitere Variante des Scheiterns ist der »sanitarni djen«, womit wohl so etwas wie ein Grundreinigungstag gemeint ist. Wenn diese Klippen alle umschifft sind, kann es immer noch passieren, dass mir – endlich vorne am Schalter angelangt – gesagt wird, meine Telefonnummer sei ja ein Anschluss mit internationalem Zugang und eben kein städtischer, und die wiederum müssen ganz woanders bezahlt werden ... Es bleibt eurer Fantasie überlassen, wieviel Zeit ich vielleicht noch aufwenden muss, bis die Telefongebühren endlich bezahlt sind, denn die letzte Auskunft kann falsch sein oder ich habe sie aufgrund von Sprachschwierigkeiten falsch verstanden, das andere Amt kann am anderen Ende der Stadt sein, es kann andere Öffnungszeiten haben, der Hauptbuchhalter musste vielleicht dringend außer Haus, und damit ist jede Behörde in Russland vollends gelähmt und untätig.

Alle in der Schlange stehenden Leute, meist Frauen, die aus irgendeinem anderen unersichtlichen Grund auch vergeblich zwei Stunden gewartet haben, brummeln und schimpfen ein bisschen, drehen sich um und gehen wieder nach Hause, um am nächsten Tag dasselbe Vorhaben erneut anzugehen. Ich habe noch nie, selbst bei meinen wirklich vielen Reisen in meinem Leben, ein so duldsames, leidensfähiges Volk erlebt. Ich stelle mir vor, dass woanders in einer vergleichbaren Situation ein großes Geschrei losginge und der Schalter nahezu eingetreten würde.

Ich glaube, die Menschen haben bittere, zu bittere Erfahrungen in der gesamten russischen Geschichte mit ihrer »Obrigkeit« gemacht, ob sie nun zaristisch, sozialistisch, kommunistisch oder stalinistisch geprägt war. Ihr Leben richten sie darauf aus, in dem jeweils gerade vorgegebenen System eine Nische zu finden für ein kleines, individuelles Glück, für die Familie (in viel weiterem Sinne als bei uns »Westlern« gebraucht!). Die Frage, ob die Vorräte an Zwiebeln, Möhren, Kohl und Kartoffeln, die im Sommer von der Datscha geerntet wurden, für die Familie den Winter über reichen werden, bewegt die Menschen weitaus mehr als der Aufbau eines politischen Bewußtseins oder einer demokratischen Tradition nach jahrhundertelangen Gewaltherrschaften. Wir mögen diese Haltung als Resignation oder Desinteresse werten, russische Menschen nicht. In Russland war es seit jeher wichtiger, die eigene Behausung im Winter zumindest frostfrei halten zu können, indem man jemanden kannte, der einen kannte, der einen guten Freund hatte, der wusste, wo es Brennholz zu tauschen gab gegen ein paar Kartoffeln.

Diese Art der Lebensbewältigung beherrschen vor allem die Frauen. Dass dieses morsche, korrupte Getriebe Russland überhaupt noch läuft, ist den Frauen zu verdanken. Sie verstehen es, unter widrigsten Bedingungen den Alltag zu organisieren, kleine hilfreiche Netzwerke zu bilden, die Kinder zu erziehen, die Datscha für die Wintervorräte zu bestellen, neue Verdienst- oder Tauschmöglichkeiten zu entdecken, alles mögliche zu reparieren und zu improvisieren und noch dazu ihre Männer zu versorgen. Das ist ein leider kaum hinterfragter gesellschaftlicher Anspruch, der sich mangels revolutionärem »Potential« wohl auch so bald nicht ändern wird. Diese vielfältigen Qualitäten und Aktivitäten entfalten russische Frauen selbstverständlich bei voller Berufstätigkeit (!), sowohl als Arbeiterinnen im Straßen- und Wohnungsbau als auch in leitenden Positionen als ökonomische Direktorin, Vertriebsleiterin oder technische Leiterin.

Ich kann selbst nach immerhin drei Jahren und vor allem drei hier durchlebten Wintern kaum fassen, wie russische Frauen diese Belastungen, Aufgaben, Widrigkeiten bewältigen und sich dabei eine unglaubliche Wärme, Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft und Einsatzfreude bewahren. Jedesmal wieder neu und unbegreiflich ist für mich die russische Gastfreundschaft und die Fröhlichkeit, der Gesang, der Tanz zu beliebigem Anlass. Sei die Wohnung noch so schlecht, klein oder kalt, der Tag noch so beschwerlich gewesen, die Preise auf dem Markt schon wieder gestiegen und der Lohn für die letzten drei Monate noch immer nicht ausgezahlt, - egal - wenn Gäste kommen, wenn Geburtstag ist, wenn Verwandte oder Freunde endlich eine Zugfahrkarte bezahlen konnten, ist der Tisch reich gedeckt und spätestens nach ein paar Hundert Gramm Wodka (das ist die offizielle Maßeinheit) wird gesungen und getanzt, einfach so, weil das Leben jetzt gerade mal schön ist …

Uschi Zimmermann

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