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MATHILDE

 

Elisabeth von Thadden, Familiäre Gründe,
Berlin Verlag 2000,
ISBN 3-8270-0344-x, DM 29,80.

Unsere Zukunft

Pointiertes aus dem Leben mit Kindern

Mit Kindern leben macht Spaß und ist ereignisreich. Kinder aufzuziehen ist ein Job, der Flexibilität, Organisationstalent, Einfühlungsvermögen und viele pädagogische Fähigkeiten erfordert. Finanzielle Entlohnung gibt es nicht. Die Redakteurin der Zeit Elisabeth von Thadden schreibt in 53 Episoden über das Alltagsleben mit Kindern in den unterschiedlichsten Zusammenhängen. Ich habe schon eine ganze Reihe mehr oder weniger lustiger Geschichtchen über das Leben gestresster, genervter Eltern gelesen, doch damit sind die Artikel dieser Autorin nicht zu vergleichen. Sie bringt die Alltagsunwegsamkeiten nicht nur auf den Punkt, sondern räumt so ganz nebenbei und zwischendurch auch mit vielen Allgemeinvorstellungen unserer Zeit gründlich auf. Besonders gut gefallen haben mir ihre Ausführungen über die Frage »WAS IST EIN MÄDCHEN?«

... Zehn Tage habe ich mich nun bemüht, über den Sachverhalt zu schreiben, dass ein Mädchen kein Junge ist, eine Tochter kein Sohn, zu sagen bliebe nur, inwiefern. Der Redaktionsschluss müsste ins Jahr 2270 verschoben werden, dann wäre ich weiter. Dann würde ich nicht mehr schreiben müssen, dass Mädchen die Sorte von Menschen sind, die hierzulande eines Tages Friseuse, Lehrerin und vor allem Mütter werden, wie es gegenwärtig der Fall ist. Oder kinderlose Städterinnen mit einem ausfüllenden Beruf.

Etwa im Jahr 2270 nämlich, hat gerade eine kluge Journalistin und Mutter vermutet, wird es nicht mehr so sein, dass für Mädchen Beruf und Familie unvereinbar sind, für Jungs hingegen sehr wohl. Dann nämlich wird der stetige Fortschritt all die gut ausgebildeten Mädchen dahin getragen haben, dass sie auf der Höhe ihrer Fähigkeiten arbeiten und sich zugleich an eigenen Kindern freuen. ...

An einem der vergangenen Regentage also machten wir uns auf den Weg in den Park, wo sich bei der Nässe kaum ein Kind aufhielt. Nur ausgerechnet meine Freundin Jill, Mutter eines Sohns, einer Tochter. Es gab kein Entkommen. Was der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen sei, wollte sie wissen. Ich sagte etwas über das Wetter, und sie antwortete, Jungen bräuchten mehr Aufmerksamkeit, Mädchen wüssten mehr mit sich selbst anzufangen. Ich wiegelte ab, dies sei eher der Unterschied zwischen Erst- und Zweitgeborenen, und sprach dann davon, dass seit Tagen die Anoraks nicht mehr trocknen.

Jill wiederum war auf einmal den Tränen nah, sagte unvermittelt, sie wolle nicht zurück nach New York, dort kenne sie jeder nur als Single und berufstätige Hochleistungsfrau, aber die sei sie nicht mehr. Ihren Beruf habe sie unterbrochen, weil ihr Mann dreimal soviel verdient habe wie sie. Jetzt habe sie seit Beginn ihrer Kinderpause vor vier Jahren mühsam gelernt, ein fürsorglicher Mensch zu sein. Jetzt wolle sie sich dafür von keinem Arbeitgeber der Welt ein schlechtes Gewissen machen lassen. ...

Ich sagte ratlos, jetzt werde es mir zu nass und überhaupt müsse ich nun leider nach Hause, um zu schreiben. Was ist ein Mädchen? Neben mir sitzt meine kleine Tochter, die sorgfältig Bausteine aufeinander schichtet, in Unisex-Windeln gewickelt, und mir von Zeit zu Zeit einen der Klötze zureicht. Unlängst hat sich jemand auf der Straße nach der Kleinen umgesehen, eine Frau Mitte Vierzig, mit Aktentasche, Kostüm, die erkannte sofort, dass das Kind eine Geschlechtsgefährtin ist. Eine von uns. Und wenn sein Vater mit dem Kind unterwegs ist, wird es meist für einen Jungen gehalten. (S. 120-122)

»Familiäre Gründe«, so der Titel des Buches, ist kein Roman, sondern eine Zusammenstellung von Artikeln, die seit 1997 in der Berliner Zeitung erschienen. Sie handeln von der Kunst der Aufzucht von Kindern in Großstädten. Dabei kritisieren sie unser Sozialsystem ebenso wie die Klischees, mit denen die Menschen in diesem System leben. Durch die erfrischende und lustig-ironische Art des Beschreibens der Autorin lesen sie sich leicht und zeugen von viel Erfahrung einer berufstätigen zweifachen Mutter.

Gabriele Merziger

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