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MATHILDE

Wer, bitte, ist Lilli?

Kurzgeschichte

Das erste Mal hat Cornelius von Lilli gesprochen, als ich in der Badewanne lag. Ich weiß es noch wie heute. Es war Samstag, und da lag ich im duftenden Schaumwasser, denn am Samstagabend hatten Conni und ich Zeit für einander. Das war so üblich bei uns, und ich wollte, dass meine Haut sich weich anfühlte und gut roch. So ein Blödsinn, denkst Du vielleicht, aber wir waren fünf Jahre verheiratet, und Conni ist ein schöner Mann. Er ist groß und gut gebaut, und im Geheimen fand ich immer, dass er der schönere Teil von uns ist. Ich mit meinem aschblonden Haar und der hellen Haut wirkte blass neben ihm, und oft habe ich beobachtet, dass Freunde uns betrachteten, als fragten sie sich, was Conni bloß an mir fände. Nun also war es Samstagabend und Conni war nach Hause gekommen; ich hatte die Tür ins Schloss fallen hören. Andy und Sabine übernachteten mal wieder bei ihrer Großmutter. Sie taten das gerne, und hätten wir es erlaubt, sie wären manchmal tagelang nicht heimgekommen. Ich rief also "Hallo Liebling" oder etwas Ähnliches aus dem Badezimmer hinaus in die Diele, damit Conni wusste, seine Amela lag mal wieder im Schaum. In dem Augenblick kam ich mir das erste Mal etwas dumm vor mit meinem Samstagsbad, richtig affig. Es heißt ja, dass etwas in der Luft liegt, bevor es noch greifbar wird. Und so war es vielleicht: Es lag etwas in der Luft.

Conni öffnete die Badezimmertür und dann stand er in Hemd, Schlips und Anzugshose neben der Badewanne. Gerade mal sein Jackett hatte er abgelegt, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Er nuschelte ein müdes "Hallo" vor sich hin und sah zu mir herunter. Da lag ich nun, nicht mehr ganz schaumbedeckt und ziemlich aufgeweicht mit rotem Kopf, denn mir war heiß. Eine lächerliche Situation, du wirst mir zustimmen. Ich registrierte, dass mein nicht mehr ganz schlanker Bauch unter Wasser Falten schlug und sah mich plötzlich mit Connis Augen. Dennoch versuchte ich tapfer zu lächeln und fragte, wie sein Tag gewesen sei. Und in diesem Moment nun sprach Conni das erste Mal von Lilli.

"Ich muss noch mal weg heute Abend", sagte Conni. Ich lächelte weiter. So was kann vorkommen. War doch nicht schlimm. "Es hat mit Lilli zu tun", sagte Conni unbeholfen. Ich hielt den Atem an, fragte aber nichts. Vielleicht hatte es mir die Sprache verschlagen. Conni räusperte sich "Lilli ist meine Freundin", sagte er und starrte auf die beigen Kacheln des Fußbodens.

Meine Hände begannen, im Wasser kleine Wellen zu führen. Ich glaube, ich musste mehrmals schlucken. Jedenfalls blickten meine Augen stur auf meine geäderten Beine im zu heißten Wasser. Mein Kopf fühlte sich leer an, aufgeblasen zu einem tauben Ballon. Ich sagte nichts.

"Jetzt weißt Du es", sagte Conni nach einer Weile. Da ich weiter schwieg, wurde er ungeduldig und wiederholte, lauter diesmal "Ich habe eine Freundin, hörst du, sie heißt Lilli, und ich kenne sie schon länger".

Vielleicht hatte Conni erwartet, dass ich weinen würde oder dass ich in Ohnmacht fallen würde oder dass ich fragen würde, ob es nett mit ihr sei. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass in mir schlagartig eine unheimlich Ruhe eingekehrt war. Ich fühlte nichts. Langsam wiederholte ich mir in Gedanken: Conni hat eine Freundin. Schon länger. Sie heißt Lilli. Aber die Worte blieben leer. Ich glaube, ich zuckte tatsächlich mit den Achseln.

Schließlich räusperte Conni sich nochmal und sagte: "Schön, dass du es so ruhig aufnimmst. Es ist, wie es ist, und mir lag daran, dass du es weißt..." Als ich auch darauf nichts sagte, verließ Conni das Badezimmer und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Wahrscheinlich, dachte ich, mixt Conni sich einen Drink. Einen Whisky trank er gern gegen Abend, zumal samstags. Da fiel mir ein, dass die Sache mit dem Bett wohl heute ausfallen würde, oder? Vielleicht hatte ich auch etwas missverstanden. Schließlich war die Bettstunde auch am letzten oder vorletzten Samstag nicht ausgefallen, und da hatte es diese Lilli wohl auch schon gegeben.

Jedenfalls befand ich, dass es Zeit sei, aus der Wanne zu steigen. Lilli hin, Lilli her. Ich trocknete mich ab, cremte mein gerötetes Gesicht ein und zwickte mich beiläufig in die Wange. Einfach so. Ich wollte spüren, ob es weh tat. Tat es nicht. Aus dem Spiegel sahen meine großen braunen Augen mir entgegen, ohne mit der Wimper zu zucken.

Ich streifte den gelben Bademantel über und ging ins Wohnzimmer. Conni lümmelte auf der Couch, einen Drink in der Hand, die Krawatte gelöst. Lächelnd blieb ich im Türrahmen stehen. "Möchtest du etwas essen?" fragte ich freundlich. Etwas überrascht sah Conni zu mir hin. "Ja gern", sagte er dankbar, "eins, zwei Brote wären nicht schlecht."

Ich nickte und ging in die Küche hinüber. Ich strich die Brote für Conni. Ich garnierte den Imbiss mit Gurken und Radieschen und trug das Tablett zu ihm ins Wohnzimmer. Ich setzte mich neben ihn auf die Couch. Mein Herzschlag war ruhig. Nichts war anders als sonst. Conni begann zu essen. Er lobte das Brot und strich anerkennend über den Ärmelstoff meines Bademantels. Von der Couch kann man durch ein großes Terrassenfenster direkt in den Garten sehen. Wie herrlich blühte dort alles, jetzt im Juli. Und bald, dachte ich, würden die Kinder Ferien haben. "Vielleicht fahren wir wieder nach Italien?" fragte ich.

Ich glaube, Conni sah mich von der Seite an. Er sagte nichts. "Auch die Hecken um die Mülltonnen herum müssen wir noch schneiden", erinnerte ich ihn. "Sicher" sagte Conni, und ich hörte Ungeduld in seiner Stimme. Oder bildete ich mir das nur ein? "Sicher", sagte Conni, "aber nicht mehr heute." Ich lachte und warf den Kopf zurück, als habe er einen Scherz gemacht. War das nun ein Scherz?

Conni schob das leere Tablett zur Seite und stand auf. Überrascht sah ich in sein Gesicht. Normalerweise schob er nach dem Samstagsimbiss seine Hand unter meinen Bademantel. "Ich muss nochmal weg" sagte Conni und zog den Knoten seiner Krawatte fest. "Ach, ja, richtig", gab ich zu. "Du sagtest es ..."

Conni ging aus dem Wohnzimmer. Ich blieb sitzen, wo ich war. Ich hatte keine Lust, mich zu bewegen. Meine Glieder schienen mir bleischwer. "Warte nicht auf mich - es kann spät werden!" rief Conni aus der Diele, bevor er die Tür ins Schloss warf. Ich saß und starrte auf das leere Tablett. Von draußen hörte ich, wie Conni das Auto anließ und davonfuhr. Dann war es still. Die nächsten Stunden sind wie ausgelöscht in meiner Erinnerung. Besser, du fragst mich nicht danach.

Plötzlich war es fast dunkel draußen. Ich hörte das hartnäckige Ding-Dong unserer Türklingel und ging nachsehen, wer um diese Zeit noch kommen könnte. Da stand Moni, meine Nachbarin. Weißt du, wir kennen uns seit Jahren. Moni und ihr Mann haben ein Reihenhaus neben uns gemietet, und so ergab sich über die Jahre das gemeinsame Kaffeetrinken oder auch mal ein Essen zu viert. Nun also stand Moni vor der Tür, und ich fragte mich, was sie um die Zeit bei mir wollte. Aber ich hatte noch gar nichts gesagt, als sie mich auch schon in die Arme schloss. "Du Ärmste", sagte sie, "du siehst elend aus! Hat Conni es dir endlich gesagt?"

Unwirsch befreite ich mich aus ihrer Umarmung und ging in die Küche, um Teewasser aufzusetzen. Moni folgte mir. "Ist ja gut", sagte sie, als wolle sie um Nachsicht bitten, "ich wollte nur schauen, wie es dir geht." - "Gut geht es mir", hörte ich mich sagen, und ich sah Moni ins Gesicht. Sie setzte sich auf einen Küchenstuhl und steckte sich eine Zigarette an. "Weißt du", fuhr sie fort, "ich habe Conni schon lange gesagt, dass es so nicht weiter geht! Er hätte längst mit dir sprechen müssen!"

Ich blickte aus dem Fenster und begriff langsam, dass wahrscheinlich all unsere Bekannten mehr über Conni wussten als ich. Jedenfalls schien Moni das zu glauben. Sonderbar, dachte ich, dabei hat Conni immer wieder gesagt, wie wenig sympathisch ihm Moni im Grunde ist. Viel zu affektiert, sagte er immer.

"Conni hat sich ein paar Mal bei mir ausgeweint, weißt du", sagte Moni jetzt und legte ihre Hand auf meine. Ihre Hand war warm und schwer und ich hätte sie gern abgeschüttelt, aber ich wollte nicht unhöflich sein. Ich wusst nicht, wohin ich gucken sollte. Zum Glück pfiff der Wasserkessel auf dem Herd, und ich erhob mich, um Tee aufzugießen.

"Weißt du", sagte Moni, "Lilli ist nun mal phantastisch, und ich glaube, jeder Mann kommt bei ihr in Versuchung. Du erinnerst dich doch sicher an die Rothaarige aus dem Zeichenkurs letzten Sommer - nun, das ist Lilli. Und mit Conni und Lilli, nun, das geht schon bald ein Jahr. Es wird Zeit, dass du dem ins Auge siehst, Amela!"

Ich schwieg und starrte in das sich langsam rot färbende Teewasser. Plötzlich stand Moni hinter mir und drehte mich an den Schultern zu sich herum: "He, Amela, du hast doch nicht im Ernst geglaubt, dass Conni so viele Überstunden im Büro machen muss? Sogar samstags, hm? Du bist doch nicht dumm!"

Es war Zeit, zu reagieren. Ich sehnte mich zurück in die vergangenen Stunden auf der Couch, allein, nicht bemitleidet und nicht ermuntert. Ich wollte zurück in diese Stille. Und ich wusste, es war schwer in meinen Augen zu lesen. Also formte ich die Worte, die mich von aller Neugier und allem Trost befreien sollten: "Hör zu, Moni, ich bin eine moderne Frau. Mach also bitte nicht aus einer Mücke einen Elefanten! Conni hat aufrichtig mit mir gesprochen, und damit ist genug gesagt ..."

Moni starrte mich wortlos an. Sie trank ihren Tee und sah beleidigt aus. "Brauchst du keine Hilfe?" fragte sie noch einmal. Ich lachte. Im Lachen war ich schon immer gut.

Nachdem Moni gegangen war, spülte ich die Teetassen ab und ging zu Bett. Ich schlief rasch ein. Im Traum machten Conni und ich Liebe. Aber als es am schönsten war, wachte ich auf. Ich weinte ein bisschen. Ich weine selten, und ich fand es auch jetzt affig. Schließlich war ich eine moderne Frau. Ich nahm eine Schlaftablette und schlief bis in den Sonntagvormittag hinein. Conni kam erst am späten Sonntagnachmittag. Er brachte gleich die Kinder von der Oma mit zurück, und ich hatte alle Hände voll zu tun, die Familie zu umsorgen. Als Conni und ich spät im gemeinsamen Bett lagen, drehte Conni mir den Rücken zu. Ich versuchte, seine Schulter sacht zu berühren, doch er brummte nur unwillig, und so kuschelte ich mich auf meiner Seite des Bettes zusammen. Von nun an nahm ich abends eine Schlaftablette, und ich schlief himmlisch, ob Conni spät in der Nacht nach Hause kam oder gar nicht. Tagsüber brauchte ich länger, um wach zu werden. Oft erschien mir alles, als sei es hinter Glas oder von Nebel verschluckt. Mein Gesicht sah in dieser Zeit sehr glatt aus, meine Augen blickten riesengroß und mein Lächeln war sanft. Wenn ich vor dem Spiegel stand und versuchte, nicht zu lächeln, so fiel mir das schwer. Das Lächeln hatte sich mir eingegraben.

Die Wochen vergingen. Conni und ich sahen uns selten. Nicht jeden Abend kam er nach Hause. Ich fragte ihn nie danach, was er tat, wo er war. Ich wollte geduldig sein. Ich war eine moderne Frau, ich wohnte in einem hübschen Haus und hatte nette Kinder. Dass mein Mann zur Zeit selten zu Hause war, würde sich wieder ändern. Das Leben ging weiter. Ich trieb mittendrin, und mir war, als breite sich eine Leere aus, die nur ich allein fühlte und die mich von anderen Menschen trennte. Moni und andere Nachbarinnen traf ich nur noch selten, beim Einkaufen etwa oder, wenn sie im nachbarlichen Garten arbeiteten. Ich hatte ihnen nichts zu sagen, und immer war mir, als musterten sie mich mit eigentümlichen Blicken. Eigentlich sprach ich überhaupt wenig in jener Zeit. Manchmal, wenn die Kinder mir etwas erzählten, bemerkte ich, dass ich vergessen hatte, zuzuhören. Hin und wieder zupften sie mich am Ärmel und riefen: "Mama, Mama!" als wollten sie mich aufwecken. Ich musste kichern: Tatsächlich tat ich vieles wie im Schlaf. Wie es in absurden Träumen geht, verwechselte ich die Dinge: Ich spannte den Regenschirm auf, obwohl die Sonne schien, hielt dann verblüfft inne und klappte den Schirm rasch wieder zu. Einmal war ich in Hauspantoffeln und Kostüm zum Supermarkt gegangen. Als ich es bemerkte, war es zu spät zum Umkehren. Ich hoffte, dass nicht allzu viele Frauen auf meine Füße sahen. Natürlich brannte mir der Reis an, die Milch kochte über, ich verlegte die Wohnungsschlüssel - na eben lauter Dummheiten, die du gewiss auch kennst. Aber, sag mal, ist das so sonderbar, dass der eigene Mann berechtigt ist, dich zu fragen, ob du nicht mal jemanden zum Reden bräuchtest - genauer: einen Therapeuten! Genau das fiel Conni nämlich ein, als der Sommer zu Ende ging. Wir waren in diesem Jahr nicht in Urlaub gefahren, nur Conni hatte zehn Tage geschäftlich weg gemusst. Und als er wiederkam, sagte er: "Amela, du wirst so sonderbar - du solltest dir helfen lassen. Therapeutisch."

Da drehte ich mich um und starrte ihn an: "Ich?" rief ich, "ich bin in Ordnung, eine moderne Frau, alles bestens ..." Conni seufzte nur und murmelte: "Das meint Moni übrigens auch ... sie sieht dich ja jeden Tag im Garten und so ..." Ich lachte. Richtig gut hab ich gelacht, so locker und echt. Dann schüttelte ich den Kopf und Conni verließ achselzuckend das Zimmer. An diesem Abend fand ich übrigens die Hälfte unseres Ehebettes ausgeräumt - kein Kissen mehr, keine Decke. Conni hatte die Sachen auf das Sofa in seinem Computerzimmer geräumt. Ich brauchte einen Augenblick, um mein rasend pochendes Herz zu beruhigen. Vielleicht will Conni mich nur schonen, nicht wahr? Schließlich kommt er oft sehr spät nach Hause. Er will mich nicht wecken, dachte ich. Ich dachte es fünfzig Mal hintereinander. Dann saß es: Er will mich nicht wecken.

An einem Nachmittag im Herbst hat Conni endlich mal wieder etwas mit den Kindern unternommen. Sie wollten Drachen steigen lassen. Fröhlich zogen sie los. Ich nahm es als gutes Zeichen für unsere Familie und bereitete ein großartiges Abendessen für ihre Rückkehr vor. Danach hatte ich noch viel Zeit.

Ich nutzte die Zeit und schnitt mir mein aschblondes Haar ab. Natürlich ließ ich ein paar kurze Haare auf meinem Kopf, aber, wie ich dir sagte, ich hatte mein Haar nie gemocht, und seit klar war, dass es auch Conni nicht gefiel, hatte es keinen Nutzen mehr. Ich schnitt es ab. Sehr kurz. Noch größer sahen meine Augen in dem Gesicht jetzt aus. Wie alt war ich eigentlich? Ich glaube, ich habe es vergessen.

Als Conni mit den Kindern kam, war es sehr spät. Sie hatten keinen Hunger. Sie hatten gegessen. Ich lächelte und schaufelte das vorbereitete Essen in die Mülltüte. Meine Familie betrachtete mich sprachlos. "Was ist mit deinem Haar?" fragte Conni tonlos. "Alles in Ordnung", sagte ich und sah ihn an.

Die Kinder erzählten aufgeregt von Tante Lilli, wie lieb sie sei und wie lustig. Sie habe fuchsteufelsrote Haare. Und sie könne toll malen. Sogar ihre kleinen Gesichter hatte Tante Lilli angemalt. Zwei Indianer standen vor mir und wollten sich zur Nacht auf keinen Fall waschen lassen.

Als die Kinder schliefen, sagte Conni: "Es wurde Zeit, dass sie Lilli kennen lernen." Ich sah Conni ins Gesicht. Alle Kraft nahm ich zusammen, um zu fragen: "Wer bitte ist Lilli?" Aber da fing Conni an zu schreien: "Einen Therapeuten brauchst du, wirklich! Bist du verrückt geworden! Und wie du aussiehst!" Dann schlug Conni die Tür von seinem Zimmer, und ich glaube, ich nahm an diesem Abend das erste Mal zwei Schlaftabletten. Oder waren es drei? Im Traum aber störte mich wer, der immerzu lachte.

Zu Weihnachten, hatte Conni angekündigt, würde er ausziehen. Ich müsste überlegen, ob ich im Haus wohnen bleiben wolle und wie ich es finanzieren wolle. Die Kinder würden zwei Wochen bei Lilli und ihm und zwei Wochen bei mir wohnen, meinte Conni. Leider hielt bei dieser Ankündigung mein Lächeln nicht länger vor, und mir war, als rutschte mein Gesicht weg. Wangen und Kinn gerieten in ein Zittern, das ich nicht beenden konnte. Mit kläglicher Stimme hörte ich mich sagen: "Bitte Conni, ich will auch bei Lilli wohnen!" Mir war das peinlich, verstehst du, denn ich bin eine moderne Frau, und dieses Kleinmädchengestammel, wieso kam es nur so plötzlich aus meinem Mund?
"Du kannst nicht zu Lilli!" sagte mein fünfjähriger Sohn vernünftig. Er stand im Rahmen der Küchentür und hatte uns belauscht.

Conni hat mich zu einem Arzt gebracht. Ich sollte mich einen Monat lang in einer Klinik ausruhen und durch Gespräche mit einem Psychologen wieder zu mir selbst finden. Aber die Medikamente, die sie mir gaben, hüllten mich in Watte und schwemmten mein Gesicht auf, so dass meine großen braunen Augen ganz klein darin wurden. Mir war, als sei ich taub an Leib und Seele. Zweimal hat Conni mich in der Klinki besucht. Einmal sagte er: "Ich kenne dich nicht wieder, Amela!"

"Aber ich bin doch eine moderne Frau!" sagte ich. Bloß passte meine Stimme nicht zu den Worten, die war so klein geworden, als sei ich ein Kind. Und immer lief mir beim Sprechen die Spucke am Kinn lang. So war es bei Andy, als ich ihn noch mit Brei fütterte. Die Kinder übrigens sah ich in all den Wochen nicht. "Sie sind bei Lilli", sagte Conni. "Wie nett" sagte ich, "grüß Lilli von mir!"

Und das zweite Mal, als Conni mich besuchte, sagte er: "Ich will Lilli heiraten!", aber da hatten die Wattemedikamente schon gute Wirkung getan, und mir war, als erzählte er einfach ein Märchen, in dem für mich kein Platz mehr war. "Naja", sagte ich, "mein Haar ist ja schon grau!" Das stimmte übrigens. Mein aschblondes Haar war endlich grau.

Kurz vor Weihnachten sollte ich aus der Klinik entlassen werden. Der Arzt hatte mir gesagt, dass Conni eine Pflegerin für mich besorgt habe. Aber ich fühlte mich viel zu klein, um je wieder in die Welt hinaus zu gehen, verstehst du? Ich war keine moderne Frau mehr, ich hatte nie verstanden, wer Lilli war - wie also sollte ich mich zurecht finden? Mein Kinn und meine Wangen zitterten immer wieder, wenn mir die Welt zu nahe kam. Mein Haar war grau. Ich musste also den Weihnachtsbaum, der unseren Gemeinschaftsraum schmückte, in Brand setzen. Es war der einzige Ausweg. Das tat ich. Er brannte lichterloh. Die Rauchmelder funktionierten hier gut, und niemand wurde verletzt. Nur mein rechter Arm ist ein wenig verbrannt. Aber ich spüre nichts. Die Flammen loderten so schön. Jetzt schließen sie mich weg. Endlich. Ich bin nämlich gefährlich. Manchmal frage ich die Leute: "Wer, bitte, ist Lilli?" Aber niemand gibt mir Antwort. Die lachen bloß dumm, oder sie rufen hinter mir her: "Lilli, Lilli!" Aber das ist doch albern, nicht wahr, denn ich bin doch nicht Lilli, oder?

Charlotte Martin

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