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MATHILDE

Drei Generationen, Foto 1916

 

 

 

 

Literatur:

Heide Göttner-Abendroth,
Matriarchat in Südchina
Kohlhammer 1998

Veronika Bennholdt-Thomsen (Hg.)
Juchitán- Stadt der Frauen,
rororo 1994

Christa Mulack,
die Wurzeln weiblicher Macht
Kösel 1996

Gerda Weiler
Eros ist stärker als Gewalt
Eine feministische Anthropologie I
Ulrike Helmer Verlag 1993

Das Erbe der Mütter

Auch wenn eine Frau nicht Mutter wird, so ist doch jede Frau eine Tochter. Die Beziehung zur Mutter prägt das Leben der Tochter nachhaltig. Diese Prägung hängt von den Erfahrungen und den Lebensumständen der Mutter ab und bewirkt in vielen Fällen, dass Mütter und Töchter ein gespanntes und belastetes Verhältnis zueinander haben.

Die Minderbewertung des Weiblichen

Töchter erleben ihre Mütter auch heute noch oft als machtlos und abhängig vom Vater und auf das männliche Geschlecht ausgerichtet. Es fehlt ihnen ein machtvolles weibliches Vorbild, das sie nachahmen könnten. Das veranlasst viele junge Frauen, ihr eigenes Geschlecht abzuwerten und sich von ihm abzuwenden. Damit übernehmen sie unbewusst das patriarchale Wertesystem mit der Fixierung auf den Vater, bzw. den Mann als den Mächtigen. Eine Folge dieser Einstellung ist die Rivalität unter Frauen, nicht selten auch zwischen Mutter und Tochter.

Schon in der frühen Kindheit werden kleine Mädchen benachteiligt. In ihrem Buch »Wir werden nicht als Mädchen geboren - wir werden dazu gemacht« (1986) macht die Autorin Ursula Scheu sehr deutlich, daß wissenschaftlichen Studien zufolge kleine Mädchen weniger lange gestillt, weniger gestreichelt und auf den Arm genommen, einer strengeren Erziehung zur Sauberkeit unterworfen werden, als kleine Jungen. Im Gegensatz zu ihren Brüdern werden Töchter schon als Kleinkinder in ihren Bestrebungen zu Autonomie eingeengt. Nur dem männlichen »Stammhalter« als Namensträger, zukünftigem Ernährer und Nachfolger wurde und wird auch oft genug heute noch in Familien große Bedeutung zugemessen. Nicht selten wurden Ehefrauen verlassen, wenn sie keinen Sohn gebaren. Unbewusst geben Mütter diese früh erfahrenen Enttäuschungen und Benachteiligungen an ihre kleinen Töchter weiter. Wenn Eltern altern, stehen Töchter allerdings hoch im Kurs. Sie sind es dann wieder, die nicht losgelassen werden, deren Autonomie nicht respektiert wird.

Die Minderbewertung des Weiblichen ist in unserer Kultur vorprogrammiert. In der Literatur, in der Kunst und in der psychologischen Forschung ist von Vater-Sohn und auch Mutter-Sohn Beziehungen stets viel die Rede gewesen und auch unser einseitig männliches Gottesbild beruht darauf. Die Mutter-Tochter-Verbindung ist nicht relevant, sie gilt in unserer Kultur nicht als verehrungswürdig.

Fehlende Frauensolidarität

Die Störung der Mutter-Tochter-Beziehung und das Fehlen einer weiblichen Kultur muss demnach als Ursache dafür gesehen werden, dass Frauen im Patriarchat es stets schwer hatten, sich gegenseitig zu stärken und einen gemeinsamem Willen auszubilden. Jede Tochtergeneration übernahm das Erbe einer entwerteten Weiblichkeit von ihren Müttern. Hier liegt die Wurzel für die kollektive Frauenfeindlichkeit von Frauen untereinander und für die weibliche Selbstabwertung, die Töchter bis heute so oft daran gehindert hat, sich mit ihrem eigenen Geschlecht zu identifizieren.

Machtvolle Weiblichkeit

Aber nicht immer haben Frauen sich so wenig aufeinander bezogen wie in unserer Zeit. Matriarchale Kulturen waren auf der Mutter-Tochter-Beziehung aufgebaut, sie war die wichtigste Beziehung überhaupt. Töchter wurden als diejenigen gesehen, die den Fortbestand des Lebens sicherten und den Stamm erhielten. Besitz und Wissen wurden über die Töchter weitergegeben. Die Mutter-Tochter-Beziehung galt als Grundlage der menschlichen Gemeinschaft und war nach der französischen Philosophin Luce Irigaray »die fruchtbarste unter dem Gesichtspunkt der friedlichen Erhaltung des Lebens«. Sie fand ihre Entsprechung im Göttlichen, im Urbild der Mutter Erde und der kosmischen Weisheitsgöttin, die alles Leben hervorbringt und erhält, wie die leibliche Mutter ihr Kind. Aus der Bilderwelt der archaischen Kulturen ist vor allem das Frauenpaar und nicht das Frau-Mann-Paar überliefert. Die großen Mutter-Tochter-Paare in der Mythologie wie Demeter-Kore, Klytaimnestra-Iphigenie, Jokaste-Antigone sind jedoch völlig aus unserem Bewusstsein verdrängt worden.

Matriarchate in heutiger Zeit

Bis heute sind matriarchale Kulturen erhalten geblieben. Heide Göttner- Abendroth berichtet in ihrer neuen Studie über das matriarchal lebende Volk der Mosuo in China, dass Mädchen im Alter von 13 Jahren zu Ehren einer Göttin ein großes Initiationsfest feiern. Sie bekommen bei dieser Gelegenheit den Schlüssel zu einem eigenen Zimmer, in dem sie ihre Freunde empfangen können. Solange eine junge Frau einen jungen Mann bei sich empfängt, haben die beiden eine Liebesbeziehung. Geld und materielle Dinge haben keinen Einfluss darauf. Kinder wachsen in der mütterlichen Sippe auf. Die Heimat der Söhne ist ebenfalls im Haus der Mutter, dem die älteste Frau der Sippe vorsteht. Söhne übernehmen die Rolle der sozialen Väter für die Kinder ihrer Schwestern und vertreten die Sippe nach außen. Frauen sind Respektspersonen, die ökonomische Verantwortung liegt in ihrer Hand. Die Mosuo sind friedfertig, kein Mann käme auf die Idee, eine Frau zu schlagen. Wenn Töchter aus beruflichen Gründen in die Stadt ziehen, erwirbt die mütterliche Familie für sie eine Wohnung oder ein Haus. Auch dann zieht der Mann zur Frau und nicht umgekehrt. Es besteht weiterhin eine starke Rückbindung zur Mutterfamilie, die auch in der Ferne schützt. Unternehmerinnen lassen einen Teil ihrer Gewinne an die Mutterfamilie fließen. Kinder heißen nach der Mutter und gehören zu ihr, auch wenn sie mit dem Vater der Kinder zusammenlebt. Es gab verschiedentlich Angriffe seitens der Regierung auf die Mosuo-Kultur, z.B. während der Kulturrevolution 1966-1976, aber die Mosuo sind nach der erzwungenen Übernahme der patriarchalen Ehe zu ihren matriarchalen Mustern zurückgekehrt. Seit 1976 hat die chinesische Regierung diese Familienform akzeptiert.

Das zweite Beispiel einer frauenzentrierten Gesellschaft ist Juchitán in Mexiko, das von der Soziologin Veronika Bennholdt-Thomsen beschrieben worden ist. Ein Jahr haben sie und ihre Mitarbeiterinnen dort gelebt, um diese »verkehrte« Welt zu erforschen. Die Frauen von Juchitán verfügen über das Geld; ihnen gehören die Häuser; sie haben Kinder von unterschiedlichen Vätern und die Freude ist groß, wenn eine Tochter geboren wird! Seit Jahrhunderten sind sie Händlerinnen und Produzentinnen, sie bestimmen die Feste und Tänze (in Juchitán wird sehr viel gefeiert!) und sie bewahren die Tradition. Die Männer arbeiten als Bauern oder Fischer, auch Politik ist in Juchitán Männersache. Doch wenn Entscheidungen die Interessen der Frauen verletzen, setzen diese ihre Macht ein.Tätigkeiten von Frauen sind in Juchitán wichtig, es gibt keine entwertete Familienarbeit und keine abhängigen Frauen. Die Wirtschaft beruht auf Subsistenzproduktion und sozialer Gegenseitigkeit, das heißt, sie ist auf die eigenen Lebensbedürfnisse orientiert, umfasst auch das Aufziehen von Kindern und die sogenannte Hausarbeit und schließt sowohl rücksichtsloses Anhäufen von Reichtum, als auch Verelendung von Menschen aus. Einer der Gründe für diese florierende lokale, regionale und eigenständige Ökonomie liegt darin, dass vor allem die Frauen sich nichts aus der Hand nehmen lassen. Sie wollten keine Supermärkte, also konnten sich auch im Handel mit industriell gefertigten Waren keine Verkaufsketten etablieren. In Juchitán existiert durchaus eine moderne Marktwirtschaft, jedoch bestimmen die Menschen (Frauen!) die Ökonomie und nicht umgekehrt wie bei uns. Es gibt kein Niederkonkurrieren, keine Monopolisierung, keine Akkumulation von Gewinnen und Reichtum. Im Gegensatz zur wirtschaftlichen Krise in Mexiko geht es den Leuten in Juchitán gut, die Kinder gehen zur Schule, erhalten eine Ausbildung. Übrigens hat es die juchitekische Gesellschaft auch nicht nötig, homosexuelle Menschen auszugrenzen, sie genießen volle Akzeptanz.

Gesellschaften wie die oben beschriebenen, die stark in der weiblichen Erfahrungswelt wurzeln und auf die Bedürfnisse von Frauen und Kindern ausgerichtet sind, stellen sicher dennoch keine Paradiese auf Erden dar und könnten nicht ohne weiteres auf unsere Industriestaaten übertragen werden. Sie zeigen aber durchaus, dass es auch in unserer Zeit möglich ist, Strukturen wie die Abwertung von Frauenarbeit, die Automatik der Wachstumsökonomie, die Missachtung der Naturbedingungen und der sozialen Gerechtigkeit zu durchbrechen.

Die Mutter-Tochter-Beziehung als Quelle weiblicher Kraft

In frauenzentrierten Gesellschaften prägt der hohe Status von Frauen und Müttern das Denken und Handeln der Töchter und Söhne und darüber hinaus beeinflusst es die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft. Töchter erleben ihre Mütter in diesen Gesellschaften als starke Persönlichkeiten. Mutterschaft und Frauenarbeit werden hochgeschätzt. In matriarchalen Kulturen hat der Begriff Macht einen anderen Klang. Es geht um weibliche Macht, die nicht auf Herrschaft und Durchsetzung des eigenen Willens gegen den Willen anderer beruht, sondern auf Handlungsvermögen und Beziehungen aufgebaut ist, wie Hannah Arendt es formuliert hat. Aus den heute noch existierenden Matriarchaten ist klar erkennbar, dass Frauen mit Macht anders umgehen. In keinem Fall wurde Macht dazu benutzt, den Mann zu unterdrücken. Töchter, die von ihren Müttern von Geburt an ein tiefes Vertrauen in das eigene Geschlecht vermittelt bekommen, entwickeln daraus einen weiblichen Selbstwert. Sie erleben ihre Mütter als Tor zu Welt. Wenn Frauen in einer gelungenen Mutter-Tochter-Beziehung die sie stärkende Beziehung zum eigenen Geschlecht lernen können, wird es auch auf der politischen Ebene dazu führen, dass Frauen einen gemeinsamen Willen, das heißt weibliche Macht, ausbilden können.

Barbara Obermüller

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