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MATHILDE

von links nach rechts
hinten: Christiane Dette (56), Ursula Weßling (50),
mitte: Ute Ritschel (42), C.M.-B. (51), Roswitha Schug (45),
vorne: S.M.-B. (22), Anna Ritschel (15)

Töchter und Mütter über Mütter und Töchter

Rundgespräch unter der Moderation von Dipl. Psych. Roswitha Schug , Schulpsychologin am Staatlichen Schulamt für den Landkreis Darmstadt- Dieburg und Darmstadt mit Ursula Weßling, Stadtverordnete von Bündnis 90/Die Grünen, Christiane Dehmer, Besitzerin und Betreiberin des Cafes »Das Blatt«, Ute Ritschel, Kulturanthropologin und Mitveranstalterin der »Aktion Vogelfrei - Kunst in Gärten«, Anna Ritschel, Schülerin der Viktoriaschule, C.M.-B., stellvertretende Schulleiterin, C.M.-B., cand. med. und Christiane Dette, Lehrerin und Frauenbeauftragte für Lehrerinnen am Staatlichen Schulamt für den Landkreis Darmstadt-Dieburg und Darmstadt

Roswitha Schug: Wie kam es zu dem Thema: »Töchter und Mütter« bzw. »Lauter Töchter« für die nächste Ausgabe der ?

Ursula Weßling: Wir kommen in der Redaktionssitzung zusammen, machen unsere Jahresplanung und legen die Themen fest.

Christiane Dette: Für diese fanden wir am Ende den Titel »Lauter Töchter«. Das bietet eine breite Basis für die unterschiedlichen Leserinnen-Interessen. So wollten wir diesem Interview mit Müttern und Töchtern ebenso keine eingrenzende Themengebung verpassen.

Roswitha Schug: Christiane hatte die Idee, mich als Psychologin, also als Spezialistin zu befragen. Und dann dachten wir, in einen »round- table«-Gespräch könnten besonders viele Erfahrungen zusammengetragen werden. So kam es zu der heutigen Einladung. Ich schlage vor, dass jede sich vorstellt und etwas über Ihre Tochterrolle in ihrer Herkunftsfamilie sagt und ob sie selber Mutter von einer oder mehreren Töchtern ist.

C.M.-B.: Also ich bin die Älteste von drei Kindern und habe als nächstes Geschwisterkind einen Bruder und dann eine Schwester. Ich selbst habe zwei Töchter geboren. Und bei der zweiten Tochter, da musste ich hören:»Schon wieder eine Tochter? Na, ist ja auch schön...«

S.M.-B.: Ja, ich bin nur Tochter, keine Mutter, und habe eine größere Schwester mit einem Altersabstand von zweieinhalb Jahren.

Christiane Dette: Ich bin die Älteste und ich glaube, ich habe diese Rolle gehabt, mich um die Jüngeren zu kümmern. Es hieß immer: »Sei ein vernünftiges Kind, kümmere dich, mach mal...,« und das ist so bis heute geblieben, dieses »machen und kümmern«. Ich selber habe keine Töchter, ich bin Mutter von zwei Söhnen. Ja und das war dann für mich die große Überraschung: Mein Mann wollte furchtbar gerne eine Tochter haben, und da ich aus dem Dreimädel-Haus kam, war für ihn ganz klar das erste Kind eine Tochter. Wir waren also ganz auf ein Mädchen eingestellt und hatten auch nur einen Namen in petto, einen Mädchennamen. Das war dann beim zweiten Kind ähnlich. Wir haben uns aber dann doch über beide Jungen gefreut.

Ute Ritschel: Also, ich bin auch die älteste Tochter. Ich weiß nicht, in dieser Runde vermute ich mal sind überwiegend älteste Töchter. Ich habe im Rahmen meiner wissenschaftlichen Arbeit einige Künstlerinnen-Interviews gemacht. Sie waren alle auch erste Töchter. Ich selbst habe eine Schwester, die zwölf Jahre jünger ist. Wir sind also beide als Einzelkinder groß geworden. Ich musste mich nicht um sie kümmern, das war sogar explizit so. Wobei ich trotzdem eine Art Mutterrolle übernahm, als meine Mutter früh starb und meine Schwester dann in der Ausbildung war. Ich war ja ihre einzige Familie! Ich sehe mich in einer Reihe von starken Frauen. Ich habe eine Tochter, meine einzige Tochter.

Anna Ritschel: Ich bin vierzehn Jahre und einzige Tochter.

Christiane Dehmer: Also, ich bin Einzelkind und habe eine Tochter von vierundzwanzig Jahren. Meine Mutter, die eine sehr, sehr starke Frau war, hat in schweren Zeiten uns viel Kraft und Energie weitergegeben. Ich denke, das hat sich jetzt auch auf meine Tochter übertragen und es ist eigentlich positiv zu werten. Diese Kraft kommt ihr jetzt zugute.

Ursula Weßling: Wir sind zu Hause sieben Kinder, ein Bruder und sechs Schwestern. Normalerweise hätte meine Mutter aber elf Kinder gehabt. Wie das früher so war, die Kinder sind an Diphterie und Lungenentzündung gestorben. Ich bin die Drittälteste. Aufgewachsen sind wir in sehr ärmlichen Verhältnissen. Die Mutter hatte nicht viel Zeit, wir haben uns um uns selbst gekümmert, das prägt mich heute noch, mich um alles zu kümmern. Früher gab es oft Eifersüchteleien unter den Schwestern, aber je älter wir werden, umso schöner ist es, fünf Schwestern zu haben. Ich selbst habe eine 24-jährige Tochter, mit der ich mich gut verstehe.

Roswitha Schug: Ja, ich bin einzige Tochter, ich habe noch einen Bruder. Ich war immer eifersüchtig auf meinen Bruder, weil da ein enges Verhältnis bestand zwischen meiner Mutter und ihm. Aber als sie krank wurde, da habe ich gemerkt, dass sich da etwas verändert hat und eine größere Nähe zwischen Mutter und Tochter entstand. Das fand ich überraschend und wider Erwarten schön.
Was waren spontan Ihre Ideen und Gedanken, als Sie hörten, wir treffen uns heute zum Gespräch über Töchter und Mütter?

Christiane Dehmer: Also, ich habe mich als Tochter gesehen. Ich hatte eine Großmutter, die für mich eine Art Mutterersatz war. Dagegen ist das Verhältnis zu meiner Mutter durchaus problematisch. Ich dachte zwar, ich hätte das alles verarbeitet, aber... Als meine Mutter starb, war ich den ganzen Tag bei ihr, das war dann so etwas wie Frieden mit ihr machen. Aus meiner Erfahrung heraus, dass man auch viele Fehler macht oder gemacht hat, versuche ich, eine gute und auch enge Beziehung mit meiner Tochter zu haben! Also, dass ich nicht so klammere und diese Haltung »Ich weiß, was gut für dich ist« nicht an den Tag lege, sondern versuche loszulassen, aber stets für sie dazusein.

Roswitha Schug: Kommt Ihre Tochter mit ihren Sorgen und Nöten von sich aus zu Ihnen?

Christiane Dehmer: Aber ja, absolut, das finde ich sehr sehr schön. Das möchte ich ihr auch mitgeben, zu wissen, da ist ein Hafen, da kannst du immer landen, egal was ist, du kannst kommen, obwohl es ein bisschen problematisch ist bei meiner Zeiteinteilung. Sie hat die Priorität, aus der Erfahrung mit meiner Großmutter heraus. Wann immer ich Probleme hatte, habe ich auch deren Zuwendung erfahren! Das möchte ich meiner Tochter mitgeben.

Ute Ritschel: Ich habe überhaupt nicht an mich gedacht bei dem Thema, weil ich da eine Kette des Lebens sehe, einen Prozess, in dem wir alle verbunden sind und miteinander zu tun haben. Annegret Soltau hat das mal so schön gesagt, mit der weiblichen Kraft, die weitergegeben werden muss. Wir sind im wesentlichen der Teil eines Ganzen, auch mit unseren Gefühlen und Sichtweisen. Ich bin ein Teil einer Kette und bin weder am Anfang noch am Ende, sondern mittendrin. Stärke und Schwäche treffen sich. Die Frage ist: »Was und wie geben wir es weiter?«

Roswitha Schug: Anna, hast du das auch so gespürt, dass diese Kette weitergeht? (Alle lachen, weil Anna eine Grimasse zieht..)

Ursula Weßling: Bei mir war es meine Reise mit meinen Schwestern nach Rügen. Dort haben wir über uns gesprochen, über unsere Kindheit und unsere Lebenszeit, natürlich. Ich muss also ein ganz grässliches Kind gewesen sein. Ich habe viel am Daumen gelutscht und ich muss viel geweint haben. »Bläge« haben sie mich immer genannt. Wenn meine Mutter mit mir bei Tanten und Onkeln aufgetaucht ist, haben sie gefragt: »Hast du die Bläge wieder mitgebracht?« Meine Mutter war die Älteste und wurde zu Hausarbeiten herangezogen, weil sie keine Ausbildung bekommen hatte. Es gab also für sie immer etwas zu helfen, sie wurde oft gerufen. Und das habe ich als Kind dann den Tanten oder Onkeln gesagt: »Du holst meine Mutter nur, wenn du sie brauchst.« Und darüber haben sich die Leute aufgeregt. Das fanden sie frech. Heute sagen sie: »Du bist ja ganz vernünftig geworden. Was ist denn da geschehen?« Interessant war, dass mir nach der Reise mit meinen Schwestern klargeworden ist, dass jedes Kind ganz andere Sichtweisen über die Familie hat, jede sieht die Mutter oder die Schwester total anders.

Roswitha Schug: Sie sprachen vorhin das sich selbst Überlassensein an. Haben Sie das als negativ oder auch als etwas Positives erlebt?

Ursula Weßling: Das hat auch ein Gefühl der Selbständigkeit vermittelt, die aber jedes Kind unterschiedlich erlebt hat. Es ist ja eine ganze Zeitspanne von 1938 bis 1955, in der die elf Geschwister geboren wurden. Wir haben auch an unterschiedlichen Orten gelebt, das verbindet die Schwestern ganz unterschiedlich miteinander.

Christiane Dette: Ich habe mich auch an erster Stelle als Tochter gesehen. Und zwar als Vatertochter, aber auch als Muttertochter. Alles, was so mit der mädchenhaften Mädchenerziehung zu tun hat, das habe ich früher gar nicht so mitbekommen. Ich war eher das wilde Kind, das am Bach spielte und auf die Bäume kletterte. Ich war wahrscheinlich unterschwellig der Ersatz für den Sohn, so dachte ich mir die Erwartungen meines Vaters. Ich hatte ein stabiles Fahrrad, damit ich die Berge rauf und runter fahren konnte und durfte auch als erste den Führerschein machen. Auch bekam ich die Erlaubnis ins Ausland zu fahren, ich musste nicht sehr darum kämpfen, d.h. ich habe schon dafür gekämpft, aber ich wusste, da gab es eine Schiene, über die ich das alles bekam. Später habe ich diese Rolle »wilde Range« abgelegt, ich weiß auch nicht, wie das kam, es gibt ja Forschungen darüber, wie sich das in der Pubertät beim Mädchen ändert. Später habe ich all das Mädchenhafte in mir entdeckt und entwickelt auch im Umgang mit den Kommilitonen, das war ein ganz anderer Teil von mir, der da zum Vorschein kam.

C.M.-B.: Wir sind zu dem Thema gekommen über das Beraten, über meine Mutterrolle. Ich bin in einem Geschäftshaushalt groß geworden, den meine Großmutter führte. Ich hatte also in dem Sinne kein eigenes Elternhaus, sondern dieses große Geschäftshaus, in dem alle zusammenlebten. Es ging immer lebhaft zu. Oft hieß es: »Hör zu, du musst zum Bäcker und du musst noch die Treppe wischen!« Das habe ich nicht gern gemacht, und mein blondgelockter Bruder brauchte nichts zu tun. Ich bin im Grunde kein neidischer Typ, aber darüber habe ich mich wahnsinnig geärgert! Meine Schwester wurde 9 Jahre später geboren. Wir zogen in die Stadt und hatten dann ein eigenes Zuhause. Als meine Oma krank wurde, fuhr meine Mutter immer hin, um ihr zu helfen. Und wieder musste ich zu Hause im Haushalt helfen. Ich hatte die Nase voll! Ich habe dann für die Schule fleißig und emsig Hausaufgaben gemacht, da war ich aus dem Verkehr. Das war das einzige, das die Familie akzeptierte. Immerhin hatte ich dann meine Ruhe. Ich habe dann die Liebesromane und alle Hefte vom Bastei Verlag gelesen und habe getan, als ob mich die Hausaufgaben erdrückten. Als ich dann nach dem Abitur aus dem Haus ging und diese Freiheit und diese Selbstbestimmung genoss, habe ich mich so entwickelt, dass es auch heute nichts Schlimmeres für mich gibt, als wenn jemand da so »mütterlich« glucken oder Vorschriften machen will.

Roswitha Schug: Wie Sie das gerade so geschildert haben, zeigt sich ein Bild, dass die Frauen alles gemacht haben, sowohl für Leib und Wohl gesorgt haben als auch für den Lebensunterhalt der Familie.

C.M.-B.: Ja, das waren sehr agile Frauen, Frauen, die immer zugepackt haben, aber auch Frauen, die immer bestimmt haben, wo es lang geht.

S.M.-B.: Also ich hatte eine Traumkindheit, bin richtig wunderschön behütet aufgewachsen, muss sagen, das Thema »Mitarbeiten« habe ich so nicht in meinem Elternhaus erlebt. Es war schlimm, dass mein Vater so früh gestorben ist, und es ist auch eigentlich der Grund, warum meine Schwester und ich und meine Mutter eine enge Gemeinschaft sind, dass wir so aneinander hängen. Ich studiere in Mainz, komme aber gern nach Hause zurück. Ich brauche die Familie am Wochenende und ich merke in letzter Zeit, es ist eine Gratwanderung. Es ist jetzt schwer die Balance zu finden, ob die Mutter in dem Moment gerade einen Rückzug braucht und ihre Ruhe, wenn man selber gerade das Gespräch will und gerne eine Zuhörerin hätte.

Roswitha Schug: Passiert es auch, dass die Mutter zu Ihnen kommt zum Abendessen?

S.M.-B.: Ja, das passiert auch allmählich. Das ist auch o.k. so. Es ist eben ein langsamer Prozess des Umgewöhnens. Es ist schwer, aus alter Gewohnheit herauszukommen.

Roswitha SchugIch glaube, das ist eine andere Qualität, wenn die Mutter und zwei erwachsene Töchter als drei erwachsene Frauen eine neue Form des Zusammenlebens finden wollen und müssen.

S.M.-B.: Ja, es ist ja auch so, dass die Erwartung von meiner Mutter mehr an eine Tochterrolle gebunden ist und nicht an mich als erwachsene Frau. Also, das ist dann auch schwer. Ja, ich sage doch immer noch, wann ich weggehe. Manchmal ist etwas zu viel Kontrolle da oder auch zuviel Eingriff in mein Leben und manchmal will ich das auch. Und dann ist meine Mutter auch gar nicht neugierig, das finde ich auch ganz schlimm. (Alle lachen.)

Christiane Dehmer: Die Loslösung, wie Sie sie hier formulieren, finde ich äußerst positiv. Ich habe das nie getan. Ich war immer so richtig die artige Tochter, wie man sich das eben so vorstellt.
Meine Mutter wünschte sich z. B., dass jedes ihrer Kinder ein Instrument spielen konnte. Ich musste Geige lernen. Nun muss ich sagen, ich bin extrem unmusikalisch. Es gab eine Geige und es wurde ein Geigenlehrer gefunden. Ich musste spielen und musste jede Woche von Pfungstadt nach Darmstadt fahren. Ich habe dann diese Geige ans Fahrrad gehängt, bin übers Kopfsteinpflaster gefahren, damit möglichst eine Seite platzt und es wieder lange dauert, bis ich in der Stunde anfangen konnte.
Meine Mutter war zu der Zeit berufstätig; ich war viel bei meiner Großmutter, und wenn meine Mutter abends die Tür aufmachte, war das erste: »Hast Du geübt?« Das war für mich so schrecklich gewesen.
Schließlich habe ich Husten bekommen und war dreimal im Krankenhaus. Die Ärzte haben dann gesagt: »Das ist das letzte Mal. Sie nehmen Ihre Tochter wieder mit!« Und das hatte zur Folge, dass ich in ein Internat kam. Ich kriege manchmal ein ganz schlechtes Gewissen, dass ich ihr das immer noch übel nehme.
Ich habe dann geheiratet und war bereit, mit meinem Mann in mein Elternhaus einzuziehen. Da lebten meine Großeltern, die das sehr schätzten. Mein Mann und ich in diesem Elternhaus – das war einfach schrecklich. Ich habe es da nie geschaftt, mich frei zu machen von meiner Mutter. Meine Mutter hatte die Kontrolle über mich, bis ich mit 44 aus dem Elternhaus ausgezogen bin. Da hatte ich die Kraft zu sagen: »Bis hierher, aber weiter nicht.« Als ich auszog, drohte meine Mutter mir mit Selbstmord. Deshalb ist es für mich ganz wichtig, sich irgendwann ab einem gewissen Punkt zu lösen.
Als ich 50 geworden bin, bin ich mit meiner Tochter verreist und dann sagte sie: »Mama, wenn Du jetzt an Dein Leben zurückdenkst, was würdest Du anders machen?« Da habe ich gesagt: »Ja, ich habe bestimmt den einen oder anderen Fehler gemacht, aber ich bin eigentlich dankbar für das Leben. Das einzige, was ich ändern würde, wäre die Beziehung zu meiner Mutter. Ich habe meiner Mutter überhaupt keinen Gefallen getan, indem ich immer »ja« gesagt habe, weil sich in mir ein Groll immer mehr aufgebaut hat. Das ist noch gar nicht richtig verarbeitet, merke ich.«
Wenn es nicht nach dem Wunsch meiner Mutter ging, dann hat sie sich einfach umfallen lassen. Sie hat also die ganze Familie tyrannisiert in meiner Kindheit. Bei uns in der Familie hieß es immer: »Sag nichts, lass sie, Du weißt, was passiert«. Und automatisch habe ich mich nie mit ihr auseinandergesetzt. Ihre Schwester und meine Großmutter kannten mich viel viel besser als sie. Das ist eigentlich schade.

Roswitha Schug: Wenn Sie an Ihre Mutter denken, was hat sie Ihnen mitgegeben? Wo haben Sie große Stärke bei Ihrer Mutter erlebt, und welche Stärke hat sie Ihnen mitgegeben? Und was an Stärke, die Sie haben, möchten Sie gerne an Ihre Tochter weitergeben?

Ute Ritschel: Also, wir sind viele starke Frauen gewesen. Ich bin auch in einem Laden groß geworden – dem von meiner Großmutter. Meine Mutter mochte ich deswegen so gerne, weil sie einen unheimlich positiven Lebenseinfluss auf mich hatte. Der Tod meines Vaters hat, glaube ich, ihr Leben sehr verändert und damit auch unser Leben. Und ich finde es total interessant, dass beide, meine Großmutter und meine Mutter, nach dem Tod ihrer Männer nochmal eine unheimliche Kreativität an den Tag gelegt haben. Beide haben ein Geschäft eröffnet, um die Familie zu versorgen. Es ging ja auch ums Überleben. Also dieser Druck war auch was Positives. – Meine Mutter hat mich auch ins Ausland fahren lassen, sie wollte mir das alles ermöglichen, dass ich keine Nachteile hätte. Dafür war ich ihr total dankbar. Deshalb bin ich auch jedes Wochenende im Studium nach Hause gefahren. Ich musste nie kommen, aber es war auch gut, dass ich freiwillig kam. Meine Mutter wollte, dass ich mich frei entwickle: Ich durfte alles machen, musste es aber nie. Und das habe ich als sehr positiv empfunden, was ich auch Anna mitgeben will.
Das Allerwichtigste ist, in Freiheit weggehen und wiederkommen. Also, nicht wegbleiben, sondern wiederkommen. Es ist schön, wenn man weiß, wo man hingehört. Und damit ist auch schon ganz viel erklärt. Das hat Anna sicher auch schon bemerkt, nicht? (Anna Ritschel schweigt und nickt)

Christiane Dehmer: Ja, ich finde es interessant. Da ich keine Geschwister habe, habe ich über Jahrzehnte einen Kreis von Freundinnen aufgebaut, die meiner Tochter Verwandtschaft und Familie ersetzt haben. Ich finde, es geht überwiegend um die stille Kraft, die Frauen einsetzen. Das finde ich als sehr wohltuend und positiv, es bestärkt mich in meinen Erfahrungen über viele Jahre hin. Also, ich danke Ihnen. (Frau Dehmer muss unsere Runde verlassen, um ihr Cafe für den Abend zu eröffnen)

Roswitha Schug: Möchten Sie zum Abschluss unser heutiges Gespräch kommentieren?

Ute Ritschel: Also, was ich ganz am Anfang gesagt habe, dieses Prozesshafte, dieses Weibliche, was uns zusammenhält, das ist das, was ich auch in Ihren Familien gesehen habe, was uns nicht loslässt. Es muss weitergehen, wir sind in einer Generation mit einer ganz anderen Möglichkeit der Reflektion und wir haben ein ganz anderes Bewusstsein als unsere Großmütter und unsere Mütter.
Ich glaube, dass wir in einer sehr prozesshaften Zeit leben. Wir müssen unseren Töchtern unbedingt mitgeben, dass das, was wir erarbeitet haben, auf keinen Fall verlorengeht. Also, man muss schon sehr vorsichtig sein, dass das, was wir in kleinen Pflanzen gepflanzt haben, geschützt wird und dass die Erkenntnisse weitergetragen werden. Eine Wissenschaft wie die Kulturanthropologie tut das schon in wissenschaftlich anerkannter Form. Und ich denke oft, dass diese Anerkennung und Bedeutung ein Verdienst der Frauen ist. Was wir unseren Töchtern mitgeben können, sind die Stärken und die Freiheit, dieses Wissen weiter zu benutzen.

Roswitha Schug: Anna, was fandest Du spannend an dem, was Deine Mutter da gesagt hat?

Anna Ritschel: Ja, also das mit dem Weitergeben, das fand ich spannend.

Christiane Dette: Ich möchte nochmal gerne an den Prozess anknüpfen. Das ist mir jetzt nochmal deutlich geworden. Die Generation meiner Mutter hatte überhaupt keine Wahl. 1939 musste sie in den Arbeitsdienst, ob sie wollte oder nicht. Aber sie hat uns Töchtern das ermöglicht, was sie nicht machen konnte, z.B. das Studium. Andererseits hat sie ihre Rolle als Mutter und Familienmittelpunkt sozusagen, voll gelebt. Einerseits hat sie die Emanzipation ermöglicht, andererseits klang immer unterschwellig durch: »Also, du kannst ja gar nichts richtig. Du bist zwar jetzt eine Frau mit Beruf und du sollst auch weiter eine bleiben, aber...« – Und das aber heißt genaugenommen: »Du kannst deine Rolle als Mutter und Hausfrau nicht richtig ausfüllen!« Und diese Ambivalenz hat bewirkt, dass wir – Frauen meiner Generation – ständig meinen, beweisen zu müssen, wir schaffen unseren Beruf, unser Haus und unsere Familie. Mir wird jetzt im Nachhinein diese widersprüchliche »Emanzipation« oder dieser »Emanzipationsprozess« bewusster.
Und die nächste Frage ist jetzt für mich: »Wie meistern wir das Thema Gleichberechtigung?« Dass eben die Aufgaben, die meine Generation sich alle aufgepackt hat, um die klassische Rolle letzten Endes genau zu bedienen, wirklich gleichberechtigt verteilt sind und beide Partner – wenn es dann um Kinder geht, usw. – die Aufgaben gemeinsam übernehmen. Also, da sehe ich weiterhin noch ein ganz großes Thema!
Das Thema oder Lebensmuster »Gleichberechtigung« müssen wir erst noch entwerfen und leben. Von unserer Mutter haben wir da kein praktikables Muster mitbekommen.
Und noch etwas, wo ich finde, dass wir kein »Muster« mitbekommen haben: Wie war meine Mutter jenseits der Mutter, jenseits der Hausfrau, der Gesellschafterin: Wie war die Mutter als Liebhaberin? Das »Liebesleben« fand hinter verschlossenen Türen statt... das wird das Fragezeichen meines Lebens bleiben. (Kichern, lachen)

Ursula Weßling: Also, der Christian kam aus der Schule. Als die Lehrerin schwanger war, ist er aufgeklärt worden und hat sich vor uns hingestellt und hat gesagt: »Also, die Frau W. hat uns jetzt alles erläutert und ich will jetzt bei euch zuschauen.
Wir haben uns gewunden wie die Aale und haben uns rausgeredet. Wir waren also nicht begeistert. Der Christian hat sich dann bei der Frau W. beschwert und hat gesagt: »Die wollen nicht mitmachen!« Ich denke, dass Kinder damit Probleme haben, sich ihre Eltern als geschlechtliche Wesen vorzustellen. Wir haben unsere Eltern gefragt, aber das war alles verboten. Später haben wir gesagt, wenn sie rumgejammert hat, meine Mutter: »Wieso hast du dich denn nicht verweigert? « Solche Diskussionen hat es dann schon gegeben. Sie hat nichts erklärt. Wir sind nicht aufgeklärt worden.

C.M.-B.: Mich interessieren Lebensbilder. Ich denke, die Welt verändert sich und damit auch die Notwendigkeit, was getan werden muss oder wie gelebt werden muss. Wenn ich mir vorstelle, wie ich erzogen bin, da gab es so ein Wort wie »Emanzipation« überhaupt nicht. Also von der Erziehung her wäre ich überhaupt nicht emanzipiert worden. Es kann also eigentlich nur die Kraft sein, die wir mitbekommen, um zu lernen, sich den Gegebenheiten zu stellen und den eigenen Lebensentwurf zu entwickeln. Ich denke, da ist entscheidend, was wir weitergeben, und nicht festgefügte Bilder. – Ich fand das Gespräch sehr schön.

S.M.-B.: Ja, ich bin auch angenehm überrascht. Was mir gut tut, wenn ich höre, wie das früher war – bei den Großeltern oder bei den Eltern – dann habe ich das Gefühl, dass wir Töchter wahnsinniges Glück haben. Also wir haben für uns gewisse Sachen, die normal sind im Vergleich zu früher, was ein Riesenschritt war. Obwohl ich jetzt gerade in Bezug auf mein Studium in einer Männerwelt bin, wo es schwer für uns Frauen ist, sich zu behaupten. Ich denk manchmal, ich hab schon den Grundstock, um ein glückliches Leben zu führen. – Ja, ich denke auch, wenn ich später ein Kind bekomme, dann hätte ich schon gerne eine Tochter. Ich finde, dass Frauen ein anderes Denken an den Tag legen und ich bin froh, eine Frau zu sein.

C.M.-B.: Das Bewusstsein hat sich offensichtlich – im Vergleich zu früher – geändert. Also, ich habe das früher so oft erlebt, dass ich bedauert wurde, dass ich zwei Mädchen habe – aber wir waren darüber glücklich, mein Mann und ich.

Roswitha Schug: Vielen Dank für das Gespräch und vor allem für die Offenheit, mit der Sie Ihre »Tochter-Mutter-Tochter- Beziehung« geschildert haben. Es wurde deutlich, wie das Leben und die Geschichte der Mutter für das Leben der Tochter bestimmend und beeinflussend ist. Es scheint Ihnen allen gelungen zu sein, die Kraft, die auch aus negativ Erlebtem erwachsen ist, positiv im Sinne einer Lernerfahrung für Ihren eigenen Lebensweg zu nutzen.

Christiane Dette

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