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Wertesystem aus einer anderen Zeit

Erziehung und Bildung in einem englischen Internat

Bradfield liegt etwa 70 Kilometer westlich von London. Wenn seine Bewohner morgens ihre Häuser verlassen, fällt ein Heer von Putzfrauen in die Häuser ein, und die Gärtner schneiden Hecken und rechen Laub. Bradfield besitzt mehrere Rasenfußballplätze, ein Sportzentrum mit Kraftraum und Schwimmbad, einen Golfplatz, mehrere Tennisplätze und einen Kunstrasenplatz. Bradfield ist ein Internat.

Eigentlich ist es ein Dorf, das aber fast nur Menschen, die in dem Internat arbeiten oder auch lernen, beherbergt. Die BewohnerInnen der Einfamilienhäuser in Bradfield sind zum großen Teil LehrerInnen, GärtnerInnen und Hausmütter. Es gibt nur wenige BewohnerInnen in Bradfield, die nichts mit der Schule zu tun haben. Darüber hinaus gibt es noch zwölf Internatshäuser, in denen die etwa 630 SchülerInnen wohnen, und die Schulgebäude.

12.000 Englische Pfund - das sind 36.000 DM - Schulgeld pro Schuljahr

In England genießt die Erziehnug im Internat einen sehr hohen Stellenwert. Wenn es sich eine Familie irgendwie finanziell leisten kann, wird das Kind zur Privatschule geschickt, entweder zu einer Ganztagsschule oder in ein Internat. Doch auch immer mehr deutsche Eltern und Eltern aus Japan und Korea bringen pro Schuljahr 12.000 Englische Pfund auf und schicken ihre Kinder für ein Jahr nach England. Dabei ist Bradfield unter den englischen Internaten keineswegs das teuerste.

Erst seit den Neunziger Jahren gibt es auch Mädchen in Bradfield, doch die sind noch deutlich in der Minderzahl. Es gibt lediglich drei Mädchenhäuser gegenüber neun Jungenhäusern. Die Mädchen besuchen nur die Oberstufe, die in England zwei Jahre dauert, während Jungen schon im Alter von elf Jahren hier anfangen. In der Oberstufe werden Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet. Die Sportstunden der Oberstufe werden getrennt gehalten.

Kleiderordnung für alle

Obwohl es in Bradfield keine Schuluniform gibt, läßt die Kleiderordnung wenig Spielraum: Die Mädchen tragen knöchellange Röcke, Blusen und Pullover mit V- Ausschnitt, die Jungen (auch schon die elfjährigen) Anzüge oder Stoffhosen mit Sakkos und Schlips. Sowohl Jungen als auch Mädchen tragen darüber die sogenannten Gowns (schwarze Roben). Es ist schon ein merkwürdiger Anblick, wenn man des Morgens durch Bradfield geht und dann eine Horde kleiner Jungen sieht, die wie kleine Rechtsanwälte aussehen.

Privatsphäre ist für die SchülerInnen natürlich so etwas wie ein Fremdwort. LehrerInnen und Hauseltern (viele LehrerInnen haben eine Doppelfunktion) arbeiten eng zusammen. Hat eine SchülerIn schlechte Noten oder fällt wegen schlechten Benehmens im Unterricht auf, wird sofort Rücksprache mit den Hauseltern gehalten. In jedem Schulgebäude befindet sich ein Telefon. Fehlt eine SchülerIn im Unterricht, kann im Haus des Kindes bei der Hausmutter (Matron) nachgefragt werden, was los ist. Noch am wenigsten Privatsphäre haben die Jüngsten, die sich ein Vier-, Sechs- oder Achtbett-Zimmer teilen müssen. Die ältesten SchülerInnen haben meist Ein- oder Zweibett-Zimmer.

Privatsphäre – was ist das?

Auch für die LehrerInnen ist der Arbeitstag nach dem Unterricht noch nicht beendet. Sie betreuen die SchülerInnen abends in den Häusern, fahren zu Auswärtsspielen mit, leiten oder helfen bei Arbeitsgemeinschaften. Doch dieses enge Miteinander von LehrerInnen und SchülerInnen hat nicht nur Nachteile. Überraschend ist der meist sehr herzliche und freundliche Umgangston zwischen LehrerInnen und SchülerInnen. Da ist ein Tennismatch mit dem Mathelehrer am Nachmittag gar keine Besonderheit.

Das Leben einer SchülerIn ist mehr als straff organisiert. Die Eltern erwarten natürlich, daß für das hohe Schulgeld ihr Kind entsprechend beschäftigt wird. Auf der anderen Seite müssen die SchülerInnen auch dauernd beschäftigt werden, da sie vielleicht sonst auf dumme Gedanken kommen.

Die SchülerInnen gehen mehrmals wöchentlich vor dem Frühstück in den Gottesdienst, der in der kleinen Kapelle stattfindet. Der Schulunterricht dauert von 8.45 Uhr bis 13.05, nachmittags finden – außer dienstags und donnerstags – noch einmal zwei Schulstunden von 16.40 Uhr bis 18.00 Uhr statt (die Schulstunden sind erfrischende 35 Minuten kurz, was aber als Lehrende/r eher anstrengend ist).

Die Zeit, in der an den Nachmittagen keine Schule ist, ist mit sportlichen Aktivitäten ausgefüllt, welche die SchülerInnen nicht unbedingt wahrnehmen müssen. Die Oberstufenschüler müssen jedoch mindestens einen Sportkurs pro Woche machen, da Sport nicht mehr Teil des regulären Stundenplanes ist. Ansonsten gibt es noch musikalischen Einzelunterricht, Arbeitsgemeinschaften und mehrere Chöre zur Zerstreuung. Jedes Haus führt einmal im Schuljahr ein Theaterstück auf, es gibt viele Konzerte, und sowohl während der Woche als auch an Wochenenden finden Matches in allen möglichen Sportarten gegen andere Schulen statt.

Kontrollierte »Freizeit«-Angebote

Die älteren SchülerInnen besuchen regelmäßig soziale Einrichtungen wie Kindergärten und Altenheime. Abends von 19.00 bis 21.00 ist Prep (Preparation), in der die SchülerInnen ihre Hausaufgaben erledigen müssen: Wer sich um diese Zeit als SchülerIn auf dem Campus herumtreibt und dann einer LehrerIn begegnet, muß sich schon eine äußerst glaubwürdige Ausrede einfallen lassen, um nicht sofort mit einer Rüge zum Housemaster geschleppt zu werden. Nach der Prep dürfen die SchülerInnen noch bis 22.00 raus. »Raus« bedeutet, sich auf dem Campus zu verteilen oder zu »Blundell’s«, dem Oberstufentreff, zu gehen, wo LehrerInnen und SchülerInnen gemeinsam Aufsicht führen. Zu Blundell’s darf nur gehen, wer über 16 Jahre alt ist und somit ein Magnetkärtchen besitzt, daß ihn/sie zum Einlaß berechtigt. Wer sich etwas hat zuschulden kommen lassen, dessen Magnetkärtchen wird gesperrt, und er/sie darf dann auch für einen bestimmten Zeitraum nicht zu »Blundell’s«. Eine andere Wahl als »Blundell’s« haben die Schüler auch gar nicht: Das nächste Dorf liegt etwa fünf und die nächstgrößere Stadt (Reading mit etwa 120.000 Einwohnern) liegt fünfzehn Kilometer entfernt. Ab 22.00 sitzt dann ein/e ältere/r Schüler/in des Hauses am Eingang und streicht die Namen der SchülerInnen aus, die schon im Haus sind.

Trotz der Bemühungen, die SchülerInnen zu Menschen zu machen, die für viele Dinge aufgeschlossen sind, ist die Barriere zur »Außenwelt« nicht nur geographisch vorhanden. Bradfield ist nur eine von vielen Schulen, die dieser traditionellen Erziehung entspricht, doch scheint es eine Erziehung und ein Wertesystem aus einer anderen Zeit zu sein.

Anne Bernhard

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