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MATHILDE

In einem englischen Schuldgefängnis des 18.Jahrhunderts
aus: Polster / Möller, Das feste Haus, 1984

Strafe und Gerechtigkeit

Gedanken zur »gerechten Strafe«

Ein Mann, der wegen Mord dreiundzwanzig Jahre inhaftiert war und dann zur Bewährung entlassen worden war, wurde auf seine Tat angesprochen. Er reagierte abweisend und sagte: «Das ist erledigt, ich habe meine Strafe abgesessen!« Dem Gesetz war Genüge getan. Aber ist damit Gerechtigkeit hergestellt? Was ist Gerechtigkeit?

Die römische Göttin Justitia ist die Symbolgestalt der Gerechtigkeit. Wir alle sehnen uns nach Gerechtigkeit – um so mehr, je weniger wir sie selber herstellen können. Das Gefühl der Ohnmacht weckt das Bedürfnis nach Strafe, nach der »gerechten Strafe«. Je ohnmächtiger sich eine Gesellschaft fühlt, umso lauter wird der Ruf nach der ordnenden Macht, die doch endlich wieder Gerechtigkeit herstellen soll. Diese Wünsche sind legitim und wahrscheinlich so alt wie die Menschheit. Doch Gerechtigkeit im objektiven Sinn, die für alle gilt, gibt es nicht, so schmerzlich diese Tatsache auch ist. Eine solche Gerechtigkeit ist ein gedachter Begriff, ein Konstrukt der Logik, kein Faktum der Realität. Und deshalb kann es auch keine Instanz geben, die diese herstellen kann. Justitia ist und bleibt eine Gestalt der römischen Göttersage, sie bleibt Symbol und Ausdruck unserer Sehnsucht nach Vollkommenheit und Frieden im Zusammenleben.

Es gibt das subjektive Gefühl für das, was recht ist. Und als gerecht empfinden wir einen Menschen, der für sich den gleichen Maßstab setzt wie für andere und dessen Handeln mit seinen Werten und Maßstäben übereinstimmt. Doch, wie wir wissen, sind solche Menschen eher in der Minderheit. Das tägliche Zusammenleben ist in der Regel mit Konflikten und Verletzungen verschiedenster Art durchmischt. Um Willkür und Selbst- oder Volksjustiz, die in der Eskalation zur Lynchjustiz ausartet, oder auch Machtmissbrauch zurückzudrängen, hat sich im deutschen Strafrecht das Prinzip entwickelt, dass es keine Einschränkung und keine Strafe gibt, die nicht per Gesetz festgehalten sind. Gerechtigkeit wurde zum Prinzip bei der Aufstellung und Beurteilung von Rechtsnormen, nach denen jedes Mitglied einer Gesellschaft beurteilt und behandelt wird. (Dass Anspruch und Wirklichkeit auch hier jedoch weit auseinanderklaffen, soll bei diesen Überlegungen nur im Hintergrund mitgedacht werden.)

Doch wenn nach Gerechtigkeit gerufen wird, ist meistens der Ruf nach Bestrafung gemeint. Wir glauben, Gerechtigkeit würde hergestellt, wenn Gleiches mit Gleichem beantwortet wird, und das könne nur durch Bestrafung der Rechtsbrecher geschehen. Meines Erachtens beginnt die Ungleichheit jedoch schon damit, dass es in Motiv und Ausführung keine gleichen Verhaltensweisen gibt. Seit jeher herrscht heftiger Meinungsstreit über Wesen, Rechtfertigung und Zweck der Strafe. Die einen sehen Strafe als Vergeltung oder Sühne, die andern meinen, Strafe sei unabdingbar zur Abschreckung anderer und Verhütung weiterer Straftaten. Unser heutiges Strafrecht ist ein Konglomerat aus den verschiedenen Ansätzen, die an der Entwicklung des Strafrechts mitgewirkt haben.

Allen ist der Grundsatz gemeinsam: Ohne Strafe geht es nicht! Und genau diesen Standpunkt halte ich für fatal. Ich wende mich gegen die Selbstverständlichkeit, mit der allen weis gemacht wird, unser Zusammenleben könne nur mit Druck, Einschränkung und Strafe geordnet und geregelt werden. Es wird so getan, als gäbe es keine anderen Möglichkeiten. Diejenigen, die anderes denken und auch sagen, werden geflissentlich überhört oder als Phantasten belächelt, weil im eigenen Denken kein Platz für Phantasie vorhanden ist.

Es gibt oder gab Gesellschaften, in denen anders mit »Störungen« im Zusammenleben umgegangen wurde. Bei den Eskimos konnte der Mörder in die Familie des Ermordeten eintreten, um für den Lebensunterhalt der Familie mitzusorgen und um so die entstandene Lücke wieder zu schließen. Im niederländischen Recht hatte der Täter die Möglichkeit, die Höhe seines Bußgeldes festzusetzen. Ein Gesetz des Frankenkönigs Childebert II von 596 stellte es der von einer Untat betroffenen Familie anheim, ob sie ein Sühnegeld annehmen wollte oder nicht (Beispiele nach Plack, 1974). Es sind durchaus Reaktionen denkbar, die weder darauf aus sind, dem Friedensbrecher Gleiches mit Gleichem zu vergelten, noch ihn physisch oder psychisch aus der Gesellschaft abzusondern.

Aus der Pädagogik wissen wir, dass Kinder auf häufige und harte Bestrafung mit zunehmend unsozialem Verhalten reagieren. Kann irgendjemand glauben, das sei bei Erwachsenen anders? Wir wissen, dass in Ländern, in denen am härtesten gestraft wird, die Brutalität am besten gedeiht, vielleicht vorübergehend unter der Decke gehalten wird, mehr aber auch nicht.

Es gibt Ansätze, die mehr darauf drängen, sowohl bei kleinen Vergehen wie auch bei Verbrechen den Rechtsfrieden wieder herzustellen, indem darüber nachgedacht wird, was das Opfer braucht und auch wie dem Täter geholfen werden kann. Ein solcher Ansatz wäre Rechtsordnung als Friedensordnung, die sich erschöpft in der Erhaltung des Friedens. Vielleicht würde sie verhindern, dass ein Mörder nach dreiundzwanzig Jahren Haft meint, die Sache sei erledigt und ginge ihn nichts mehr an. Er hätte vielleicht die Chance erhalten, seine Tat zu bedauern und zu betrauern und nach seinen Kräften dafür einzustehen.

Margret W.-Simon

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