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MATHILDE

Sternenhimmel

Wir sind Sternenstaub

Dimensionen des Weltalls

Ist das schön hier," brach Hilde als erste die Stille, nachdem sie eine Weile schweigend bergauf gegangen waren. Es war inzwischen fast gänzlich dunkel geworden. Und seit dem Abend war der Himmel nahezu wolkenlos. "Ich habe dir also nicht zu viel versprochen," lachte Anne. Nach einiger Zeit fügte sie hinzu: "Wenn ich die Sterne sehe so wie heute, wird mir immer ganz feierlich zumute."

"Du hast recht, ich glaube, das geht den meisten Menschen so. Ich freue mich auch immer, wenn ich die wenigen Sternbilder, die ich kenne, entdecke. Da drüben der große Wagen und weiter oben der kleine Wagen mit dem Nordstern."

"Für uns sieht es aus, als ob die Sterne von einem Sternbild zusammengehörten, dabei sind sie meistens sehr unterschiedlich weit von uns entfernt."

"Die Entfernungen im Weltall sind etwas, für das meine Vorstellung nie reichen wird," entgegnete Hilde. "Für ein Lichtjahr reicht mein Fassungsvermögen schon nicht aus, aber Tausend oder Milliarden Lichtjahre...."

"Der Sternenhaufen oder auch die Galaxie, zu der unsere Sonne gehört, ist 90.000 Lichtjahre breit, und da das Licht 300.000 km in einer Sekunde zurücklegt, sind das also 300.000 x 60 x 60 x 24 x 365 x 90.000 km, das ist alles zusammen ungefähr eine eins mit 18 Nullen, das sind Milliarden Milliarden, beziehungsweise eine Trillion Kilometer. Die Astronomen gehen davon aus, dass es im Universum an die hundert Milliarden Galaxien wie die unsere gibt." Anne, die Naturwissenschaftlerin kannte sich etwas aus, aber ihr wurde immer wieder mulmig bei der Unfassbarkeit dieser Ausmaße.

"Die Entfernungen, die so unvorstellbar sind, ist die eine Seite der Medaille, aber Zeit, die mit den Begriffen Lichtjahre, Galaxien, Sternenhaufen, Milchstraße und so weiter ausgedrückt wird, ist die andere Seite und eine Angelegenheit, die das menschliche Denken nicht weniger überfordert." Nach einer Weile fügte Hilde hinzu: "Zeit, was ist das eigentlich? - Wie würdest du den Begriff Zeit definieren?"

"Zeit ist etwas, das mir immer fehlt," wich Anne der Frage aus und lachte.

"Du dumme Nuss, im Augenblick haben wir zum Beispiel Zeit einen Spaziergang zu machen und über Zeit und Sterne zu reden."

"Du hast ja recht. Aber ich weiß so auf Anhieb wirklich nicht, wie ich Zeit beschreiben würde. Ich weiß, dass Zeit die vierte Dimension ist."

"Das habe ich in der Schule auch gelernt, aber begriffen habe ich es nie. Ein Würfel ist hoch und breit und tief, aber wo hat der Würfel seine vierte Dimension Zeit?"

"Alle Dinge haben vier Dimensionen, sonst wären sie nicht existent. Stell dir einen Punkt vor. Kannst du das? - Du kannst ihn dir vorstellen, aber es gibt ihn nicht, denn er hat keine Ausdehnung. Die Punkte, die du hinter deine Sätze machst, sind zum Beispiel im Mikroskop eher schon Gebirge, denn wenn dein Punkt wirklich ein Punkt wäre und nicht eine Mindestausdehnung hätte, könntest du ihn nicht sehen und du hättest ihn umsonst gemacht."

"Gut, aber wo hat der Punkt die vierte Dimension?"

"Langsam, mein Herzblatt! Genauso wie mit dem Punkt ist das mit einer Linie, sie hat eine Länge, aber du könntest sie nicht sehen, wenn sie nicht auch eine Mindestbreite hätte. Und damit sind wir bei der Fläche, die du auch nicht sehen könntest, sondern nur als Idee existierte, wenn sie nicht eine Mindesthöhe hätte. Leuchtet dir das bis hierher ein?"

"Natürlich, Frau Lehrerin, so wie Sie das erklären, wird's sonnenklar. - Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, wo die vierte Dimension ist."

Anne lachte und ließ die Freundin ein bisschen zappeln. Doch die kam ihr zuvor: "Ich glaube, jetzt habe ich eine Ahnung, wie du das meinst. Wenn mein ,Punkt-Gebirge' nicht über eine längere Zeit, das heißt, wenn es nicht so lange existent und zu sehen wäre, wie der Text benötigt wird, auch dann hätte ich ihn umsonst gemacht."

"Ja, so wollte ich es erklären! Genau so mache ich mir das mit der vierten Dimension immer klar. Doch deine Frage von vorhin, was Zeit eigentlich ist, scheint mir damit trotzdem noch nicht beantwortet zu sein."

"Das stimmt!" sagte Hilde, die sich gerne mit Geschichte und auch etwas mit Philosophie beschäftigte. "Ich habe gelesen, dass Zeit das Nacheinander der Ereignisse ist und dass sie erst erfahrbar wird durch die Dauer dieser Erfahrungen und durch die erlebten Veränderungen."

"Das heißt, dass wir Zeit nicht erleben könnten, wenn wir keine Erinnerung hätten. Meine Erklärung von der vierten Dimension und dein Nacheinander der Ereignisse sind also zwei unterschiedliche Eigenschaften der Zeit. Mit dem einen beschäftigen sich wohl mehr die Naturwissenschaftler und mit dem anderen die Historiker."

"Die Chronologen, die geschichtliche Ereignisse in ihren zeitlichen Folgen aufzeichnen, unterteilen ihre Zeiträume in historische, vorgeschichtliche, geologische und kosmische Zeiträume. - In der Antike und im Mittelalter wurde die objektive Zeit nicht ohne ein reales Substrat angenommen."

"Das ist interessant! Wir sagen ja auch, dass die Zeit fließt. Vielleicht kommt dieser Ausdruck daher. Aber du hast eben die objektive Zeit betont. Reden wir nicht die ganze Zeit von objektiver Zeit?" erkundigte sich Anne.

"Im 19. Jh. wurde das Verhältnis von objektiver und erlebter Zeit herausgearbeitet. Vor allem Henri Bergson, der 1859 bis 1941 gelebt hat, erklärte die erlebte Zeit als ursprünglich und schöpferisch, die objektive Zeit dagegen als Konstruktion des Verstandes."

"Das heißt, wir haben jetzt einen dritten Aspekt der Zeit, über den wir sprechen. Zuerst haben wir über die mathematische Dimension Zeit und dann über die Zeit als Ordnungsinstrument der Historiker geredet. Weißt du noch mehr über dieses schöpferische Zeiterleben? Das ist ja wohl eher das Terrain der Psychologen, und vielleicht ist es auch das, was uns am meisten angeht."

"Ich weiß nicht, ob uns die anderen Aspekte weniger angehen. - Unter Zeiterleben oder Zeitbewusstsein verstehen wir einerseits das subjektive Erfassen der zeitlichen Folge, andererseits das Wahrnehmen von Zeitintervallen. Der Zeitraum, den wir als unmittelbar gegenwärtig empfinden, wird Präsenzzeit genannt. Und diese Präsenzzeit beträgt maximal sechs Sekunden. Alles andere erleben wir als davor oder danach. Dass wir die Geschwindigkeit des Zeitablaufs sehr unterschiedlich erleben, ist wohl etwas Alltägliches. Zehn Minuten monotone Arbeit machen müssen oder zehn Minuten einen spannenden Film sehen, ist eben ein Unterschied. Ebenso erlebe ich die Zeit anders, wenn ich müde und überfordert bin, als wenn ich gut ausgeschlafen habe und voller Tatendrang bin. Das heißt, das Zeiterleben hängt einerseits sehr von der Ereignisfülle ab und andererseits von meiner psychischen Befindlichkeit."

"Woher kommt es denn, dass wir zwar eine Uhr brauchen, aber ohne Uhr würden wir in der Regel auch spüren, ob es noch früh oder schon sehr spät ist," wollte Anne wissen.

"Dieses Gespür wird Zeitsinn, biologische Uhr, endogene Rhythmik oder innere Uhr genannt. Er ist bei den Menschen, allen Pflanzen und Tieren vorhanden. Dieser Zeitsinn wird in der Zelle lokalisiert, doch die molekularen Funktionen konnten noch nicht ausreichend erforscht werden. Er muss etwas mit den Stoffwechselprozessen zu tun haben. Es ist auch noch nicht bekannt, ob diese Zeitgeber von inneren oder äußeren Faktoren gesteuert werden. Doch die Periodendauer des Zeitsinns beträgt ziemlich genau 24 Stunden."

Die beiden Freundinnen hatten sich schon seit einiger Zeit auf eine Bank gesetzt, von der aus sich ihnen ein weiter Ausblick bot über das inzwischen fast schwarze Tal und in den sternenübersäten Himmel. Die warme, spätsommerliche Nacht hätte nicht geeigneter sein können, um solche Gespräche über Zeit und Raum zu führen.

Jede der beiden hing den eigenen Gedanken nach, bis Anne meinte: "Viele von den Sternen, die wir in diesem Augenblick sehen, existieren schon gar nicht mehr, weil das Licht, das sie uns geschickt haben, Milliarden von Jahren unterwegs war und sie in der Zwischenzeit längst verglüht sind. Wir wissen fast nichts gemessen an den Fragen, die wir nicht beantworten können, obwohl schon sehr viel erforscht wurde, so dass wir uns von vielen Dingen ein relativ konkretes Bild machen können."

"Für mich fängt die Fragerei schon an, wie es möglich ist, mit der Forschung so weit ins Weltall vordringen zu können." Hilde wusste, hier kannte sich die Freundin besser aus.

"Die Erforschung der objektiven Zeit hängt eng zusammen mit der Entwicklung der Astronomie und umgekehrt. Die immer präzisere Technik der Zeitmessung, war eine Voraussetzung für viele Erkenntnisse, die gewonnen werden konnten." "Früher wurde die Zeitmessung nach der Sonne ausgerichtet. Was ist heute anders?" wollte Hilde wissen.

"Zeitmessung beruht auf Zeitintervallen, die streng periodisch ablaufen und beliebig oft reproduziert werden können. Das war früher zum Beispiel das Pendel, heute sind es Quarzkristalle, Atome oder Moleküle, mit deren Hilfe elektronische Schwingen auf das Genaueste präzisiert werden. Die Abweichung einer optisch gepumpten Cäsium-Atomuhr beträgt heute ungefähr eine Sekunde in einer Million Jahren. Aber bitte frag mich jetzt nicht, was eine optisch gepumpte Cäsium-Atomuhr ist," lachte Anne.

"Wenn du nicht einmal das weißt," gab Hilde spitzbübisch zurück, "musst du mir wenigstens sagen, wie groß die Ewigkeit ist."

"Du bist sicher nicht die erste, die eine solche Frage stellt. Solange es Menschen gibt, versuchen sie nachzudenken, zu forschen, die Welt zu verstehen.

Auch heute finden wir noch die beiden Richtungen des Denkens, die es in der Antike schon gab: die lineare und die zyklische Anschauung. Doch das kannst du sicher besser erklären als ich."

Ja, das wusste Hilde: "Im Indogermanischen Kulturkreis ist das zyklische Geschichtsbild entstanden. Es gibt dort keinen Anfang und kein Ende, die Ereignisse kommen und gehen wie die Jahreszeiten. Das lineare Geschichtsbild entstand im semitischen Kulturkreis. Hier glaubten die Menschen an die Erschaffung der Welt und an den Jüngsten Tag. - Doch wie hast du das eben gemeint, dass es diese beiden Richtungen auch heute noch gibt, und was hat es mit der Frage zu tun, die ich dir zwar im Spaß gestellt habe, aber doch auch ernst meine."

"Du hattest nach der Ewigkeit gefragt. Ich habe deinen Spott sehr wohl bemerkt. Trotzdem wollte ich eine Antwort versuchen. Die Theorie vom Urknall geht davon aus, dass vor fünfzehn bis zwanzig Milliarden Jahren das Weltall auf sehr kleinem Raum mit unendlich hoher Dichte und Temperatur beschränkt war und dann explosionsartig auseinandergetrieben wurde. Die lineare Denkweise nimmt an, dass diese Ausdehnung sich bis in die Unendlichkeit fortsetzt, die zyklische Denkweise glaubt eher, dass dieses Auseinanderdriften sich irgendwann umkehrt, die Materie in das Anfangsstadium zurückkehrt, um sich für einen neuen Urknall zusammenzudrängen, so wie ein Feuerwerk, das du in die Luft schießt, einen höchsten Punkt erreicht und wieder herunterfällt. Das alles würde aber auch heißen, dass die Materie im gesamten Weltall die gleiche ist."

"So gesehen könnten wir sagen, dass du und ich aus Sternenstaub entstanden sind. - Mir wird ganz feierlich und schwindlig!" sagte Hilde. Plötzlich rief sie: "Hast du das gesehen? Eine Sternschnuppe! Wir dürfen uns etwas wünschen!" Beide schauten sich an und lachten. "Ich glaube, ich weiß, was ich mir wünsche!" sagten sie zur gleichen Zeit. Noch einmal schauten sie sich an und lachten. Dann gingen sie zurück.

Margret W.-Simon

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