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Zeit statt Geld

Interview mit Rita Gutberlet, der Initiatorin der "Nachbarschaftshilfe Dieburg" und Dorothee Eckardt, Mitinitiatorin der "Heinertalente" in Darmstadt

Wie in vielen anderen Städten gibt es seit Anfang diesen Jahres auch in Darmstadt und in Dieburg Tauschringe (TR) für bargeldlosen Austausch von Dienstleistungen aller Art. In Darmstadt ist es das "Heinertalent-Experiment", und in Dieburg nennt sich der Tauschring "Nachbarschaftshilfe Dieburg.
Manche meinen, die Idee ginge auf einen findigen Kanadier zurück, der das erste Netzwerk dieser Art in British Columbia gegründet hat, andere sagen, sie käme aus den U.S.A. (Barter-Clubs) oder aus England (LETS - Local Exchange Trading Systems). Doch es ist auch richtig, dass es schon in den drei&stlig;iger Jahren in Deutschland TR gab. Im Unterschied zu damals braucht man/frau heute keinen direkten Tauschpartner mehr zu suchen. Jedes Mitglied hat ein eigenes Tausch-Konto, auf dem in einer Phantasiewährung Soll und Haben belastet bzw. gutgeschrieben werden. Es gibt verschiedene Organisationsformen, wie die TR funktionieren: Die "Nachbarschaftshilfe Dieburg" hat die Form des eingetragenen Vereins gewählt, das Darmstädter "Heinertalent- Experiment" ist ein "nicht rechtsfähiger Verein", was jedoch nicht hei&stlig;t, dass er sich au&stlig;erhalb des Rechts bewegt. In Dieburg rechnet man mit TP (Tauschpunkten), in Darmstadt mit HT (Heinertalenten) ab. Woanders hei&stlig;en die Währungen zum Beispiel "Peanuts" (Frankfurt/M), "d&ouuml;Mak" (Halle a.d. Saale), "Tiden" oder "Blüten" (Viersen)

Frau Gutberlet, Sie organisieren mit anderen seit der Gründung im März die "Nachbarschaftshilfe Dieburg". Welche Ziele stehen hinter diesem Namen?

Rita Gutberlet: Unser vorrangiges Ziel ist die F&ouuml;rderung sozialer Kontakte, wobei wir besonders an neu zugezogene Bürgerinnen und Bürger gedacht haben. Au&stlig;erdem werden Kontakte zwischen Deutschen und Ausländern, Jungen und Alten, Armen und Reichen erleichtert.
Wir haben uns dabei die alten Dorfgemeinschaften zum Vorbild genommen, in denen Nachbarschaftshilfe ganz selbstverständlich war.

In Darmstadt hei&stlig;t der Tauschring "Heinertalent- Experiment, Frau Eckardt. Wie kam es zu diesem Namen?

Dorothee Eckardt: Wir haben gesagt, Heiner das sind die Einwohner in Darmstadt, egal welches Geschlecht, welche Nationalität, da wird nicht unterschieden, und jeder Heiner hat eigentlich ein Talent, also irgendetwas, das er oder sie gerne macht, das muss nicht das Hobby sein, aber etwas, das auch anderen gerne zur Verfügung gestellt wird. Talente gehen im Unterschied zum Geld ja nie aus. Je mehr ein Talent genutzt wird, um so gr&ouuml;&stlig;er wird es. Da fanden wir es passend zu sagen, wir nennen das ganze in Darmstadt Heinertalent-Experiment. Experiment deshalb, weil es noch abzuwarten bleibt, ob das ganze funktioniert.

Natürlich lebt ein solcher Verein hauptsächlich durch die Initiative seiner Mitglieder, die ihre Fähigkeiten zur Verfügung stellen. Trotzdem geht es nicht ohne ein gewisses Ma&stlig; an Organisation und Bürokratie. - K&ouuml;nnen Sie Ihre eigene Arbeit etwas näher beschreiben?

Rita Gutberlet: Meine Tätigkeit im Verein umfasst zur Zeit alle organisatorischen Arbeiten, z.B. Pressearbeit, Interviews, Werbung, Mitglieder-Infos (Marktzeitung), Adressenverwaltung, Vorbereitung von Vereinstreffen usw.

Dorothee Eckardt: Das wichtigste ist immer, den Briefkasten, Anrufbeantworter und das Telefon im Auge zu haben. Die Leute rufen zu ganz verschiedenen Zeiten an, das kann abends sein oder am Wochenende. In der Regel erkläre ich am Anfang sehr viel, wie das funktioniert. Die Leute haben von anderen geh&ouuml;rt, dass es das gibt, und dann endet das Gespräch damit, dass die Telefonnummer und Adresse aufgeschrieben wird. Wir vereinbaren, was die Leute geschickt haben wollen, z.B. unverbindlich die Zeitung und die Regeln, oder ob sie gleich etwas Bestimmtes tauschen wollen und suchen. In einem solchen Fall m&ouuml;chte ich die Leute erst sehen, weil ich nicht einfach die Adressen herumschicke.
Manche sagen, dass sie mitmachen und sich anmelden wollen, tun es aber doch nicht und melden sich einfach nicht mehr. Dieses Hinterherlaufen macht mich manchmal auch ärgerlich.
Nachdem der ECHO-Artikel erschienen war, war es einige Wochen sehr unruhig in meiner Familie. Ich hatte viel HT-Arbeit. Auch wenn die Zeitung neu erschienen ist, kommen viele Nachfragen. Doch wenn die Leute bezahlt und die Telefonliste haben, dann warten viele erst einmal ab. Ganz schnell sind zwei Monate herum und es ist nichts passiert. Sie rühren sich nicht mehr. Und ich wei&stlig; dann nicht, ist das Angebot, das sie gemacht haben, noch aktuell oder hätten die gerne etwas anderes. Dass die Leute von sich aus initiativ werden, ist nur in ganz wenigen Fällen der Fall. Die Rückmeldung fehlt. Da schwanke ich, ob ich mir wünschen soll, mal zweihundert Mitglieder zu haben, oder bin ich lieber zufrieden mit dem derzeitigen Mitgliederstand. Manche Leute wollen mitmachen, bieten etwas an, z.B. "ich koche gerne", und dann warten sie nur, und wenn sich niemand meldet, sagen sie, keiner will meine Angebote wahrnehmen. Mich will keiner! Die Leute müssten auch suchen, was die anderen brauchen.

Wie viele Mitglieder hat Ihr Verein inzwischen?

Rita Gutberlet: Zur Zeit haben wir mehr als 30 Haushalte und Einzelpersonen als eingetragene Mitglieder in unserem Verein.

Dorothee Eckardt: Wir haben nach der Mitgliederliste 81 Mitglieder, aber die wirklich Regeln unterschrieben und bezahlt haben, sind 63. - Ich wünsche mir schon mehr Mitglieder. Viele kommen aus der Umgebung Weiterstadt, Pfungstadt, Mühltal , es wird auf Dauer zu schwierig sein, diese Leute im Darmstädter Tauschring zu organisieren. Ich k&ouuml;nnte mir vorstellen, im nächsten Jahr noch einmal eine gezielte Werbekampagne zu machen mit besserer Organisation, so dass es m&ouuml;glich ist, einen Schwerpunkt Bessungen-Eberstadt und einen Arheilgen-Darmstadt-Nord zu haben, damit für die Angebote und Nachfragen die Wege kürzer werden und das Tauschen vielleicht intensiver wird. Es ist einfacher, wenn es um die Ecke oder nur zwei Stra&stlig;enbahnhaltestellen weit ist, wenn ich etwas tun will.

Das ist schon beachtlich, wenn man bedenkt, dass der Verein gerade mal ein gutes halbes Jahr besteht. Nehmen Sie noch neue Mitglieder auf und - wenn ja - wie kann man Mitglied werden?

Rita Gutberlet: Selbstverständlich sind neue Mitglieder jederzeit willkommen.
Wer beitreten m&ouuml;chte, sollte einen an sich selbst adressierten und frankierten A4-Umschlag an eine unserer Kontaktadressen schicken und die Unterlagen anfordern. Unser Jahresbeitrag ist übrigens äu&stlig;erst niedrig, 12,- DM im Jahr.

Dorothee Eckardt: Jederzeit kann jeder Mitglied werden. Wer interessiert ist, ruft am besten an oder kommt vorbei. Wir treffen uns alle zwei Monate, die Leute k&ouuml;nnen zu den Treffen kommen, dort sehen sie viel mehr und bekommen die Stimmung mit. Dann k&ouuml;nnen sie sich leichter entscheiden. - Wenn es noch lange dauert bis zum nächsten Treffen, habe ich es auch gerne, wenn sie kommen. Vielleicht kenne ich die Leute auch aus anderen Zusammenhängen, z.B. aus dem Kindergarten oder von ganz früher oder die Kinder haben zusammen auf der Stra&stlig;e gespielt. Wenn wir uns dann in der Stadt treffen und begrü&stlig;en, ist das auch vom Lebensgefühl etwas anderes.

Welche Dienstleistungen werden von Ihren Mitgliedern hauptsächlich angeboten?

Rita Gutberlet: Kochen, Backen und Mithilfe im Haushalt oder bei Parties werden am häufigsten angeboten. Aber auch Gartenarbeit, Kinderbetreuung und Computer-Beratung stehen auf der Liste. Von Männern werden hauptsächlich Reparaturen aller Art an-geboten.
Recht ausgefallene Angebote gibt es aber auch. Das Schlichten von Familienstreitigkeiten z.B. ist eines davon. Im kreativen Bereich haben wir unter anderem das Malen von Bildern nach Fotovorlage, Keramik-Unterricht und das Brennen von Kera-mik-Objekten im Programm.

Dorothee Eckardt: In der ersten Zeitung gab es wenige Hilfen in Haus und Garten, auch sonstige nachbarschaftliche Hilfen fehlten. Und wenn man jetzt die Zeitung anguckt, ist das der gr&ouuml;&stlig;te Bereich: Einkaufsdienste, Fahrdienste, Handwerkliches, ich meine, dass ganz viel zu tauschen m&ouuml;glich ist. Man muss sich nur überwinden und nicht meinen, die Fenster erst grob selber putzen zu müssen, weil sie zu schmutzig sind, wie eine Frau das beim letzten Treffen sagte.

In der Satzung des Dieburger Vereins und in den Darmstädter Regeln haben wir gelesen, dass für Sie grundsätz-lich jede Arbeit gleichen Wert besitzt. Es wird also die reine Zeit verrechnet. - Hat der Faktor Zeit für die Menschen neuerdings einen h&ouuml;heren Stellenwert? Oder wie erklären Sie sich das Phänomen, dass ähnliche Tauschringe quer durch die Republik wie Pilze aus dem Boden schie&stlig;en?

Rita Gutberlet: Ja, ich denke schon. Über einen anderen Umgang mit der Zeit werden auch andere Werte wieder deutlicher hervorgehoben. Wir wollen weg von dem Slogan "Zeit ist Geld". Wir tauschen die Zeit, es geht nichts verloren. Indem man für einen anderen etwas tut, gibt man zunächst einmal Zeit weg, die man sich dann aber wieder zurückholen kann, indem man sich von jemand anderem etwas machen lässt. Man spart au&stlig;erdem Zeit, weil jemand mit mehr Erfahrung und Praxis diese Arbeit viel schneller erledigen kann als man selbst.

Dorothee Eckardt: Die Tauschringe, die im ganzen Bundesgebiet entstanden sind, arbeiten sehr unterschiedlich. Da gibt es eine ganze Reihe, für die die Arbeit nicht gleichwertig ist. Die orientieren sich am Geld. Sie sagen, durchschnittlicher Stundenlohn für jemanden, der Haare schneiden kann, ist z.B. 30 TP und Übersetzerarbeiten sind 60 TP. Entsprechend unterschiedlich wird das auf den Zeitkonten gutgeschrieben. Etwa knapp die Hälfte aller Tauschringe arbeiten mittlerweile nach dem Zeitprinzip. Es ist ein bewusster Schritt, vom Geld wegzukommen und zu sagen, jeder hat dieses eine Leben, wenn wir einen Ma&stlig;stab brauchen, ist es realistisch, die Zeit zu nehmen, weil die auch jeder hat. Es wäre auch falsch zu sagen, ich erwarte ein bestimmtes Tempo, wenn jemand bügelt oder Fenster putzt. Jeder oder jede macht das nach dem eigenen Talent. Dabei kommen die Leute auch ins Gespräch, es geht ja nicht um Akkordarbeit. Ich habe aber auch schon gemerkt, dass manche Angst haben, zu viel Zeit zu brau-chen. Ich will ja nicht Zeit gut machen, wir haben ja Zeit. Ich brauche eine Hilfe, ich mag nicht unter Zeitdruck stehen. Ein Junge, der für mich geschrieben hat, rief an und sagte: Dorothee, kannst du mal kommen und gucken, ob ich schnell genug schreibe? Das habe ich natürlich nicht gemacht. Die Leute handhaben das auch unterschiedlich, die einen sagen, wir haben noch etwas geschwätzt und schreiben das auch gro&stlig;zügig auf, andere gucken genau auf die Uhr und rechnen ganz genau ab. Ich glaube, da darf man keine Marschrichtung vorgeben. Manche wollen z.B. den Anfahrtsweg mitabrechen. Die Tauschpart-nerInnen müssen einfach darüber reden.

Zeit ist ja überhaupt das wichtigste Kapital eines Menschen, denn Geld kann man immer wieder neu erwerben, Zeit aber nicht. - Gibt es Leute in Ihrem Verein, die einfach nur ihre Zeit anbieten?

Rita Gutberlet: Ja, es wird auch Zeit angeboten. Zeit für Spaziergänge mit alten Menschen oder für Gespräche zum Beispiel. Vieles wird aber auch ohne Abrechnung getauscht, wenn sich die Leute sympathisch sind.

Dorothee Eckardt: Ja, das gibt es auch! Es gibt Leute, die bieten sich z.B. als seelischen Mülleimer an oder wollen mit alten Leuten spazie-ren gehen, vorlesen, zuh&ouuml;ren, ich wei&stlig; nicht, ob das genutzt wird, weil die Versuche, Kontakte zu Altersheimen zu knüpfen, schon wieder in der Bürokratie stecken bleiben. Die Verwaltung sagt, wir haben unsere sozialen Dienste, da ist jemand, der ist verantwortlich, vielleicht wollen wir einen Kaffee machen, vielleicht kann man im Rahmen des Altenkaffees sich zum TR und nach au&stlig;en &ouuml;ffnen. Eine Frau würde gerne mit ihrem Hund ins Altenheim gehen oder mit den Leuten spazieren gehen, Roll-stuhl fahren, solche Angebote gibt es, die Heimleitung ist nicht aufgeschlossen. Einzelne ältere Menschen anzusprechen, ist sehr schwierig.

Welche Angebote fehlen nach Ihrer Meinung noch im Programm?

Rita Gutberlet: Ich pers&ouuml;nlich würde mir Reitunterricht wünschen, am besten Westernstyle. Es fehlen aber auch noch Angebote für Musikunterricht oder Putzdienst. Putzen ist allgemein sehr unbeliebt. Man sollte ganz einfach unsere Marktzeitung durchsehen, die alle zwei Monate an die Mitglieder verteilt wird. Das hilft bei der Ideenfindung, wenn man nicht genau wei&stlig;, was man alles anbieten k&ouuml;nnte.

Dorothee Eckardt: Das kann ich im Augenblick gar nicht sagen! Ich glaube, dass es für alles, was &ouuml;fter im Alltag vorkommt, und auch für alles, was man nur ab und zu nutzt, z.B. Geschenke besorgen und einpacken, Angebote gibt. Die M&ouuml;glichkeiten sind sehr viel-fältig. Ich wüsste jetzt nichts Spezielles, was fehlt.

Frau Eckhardt und Frau Gutberlet, wir danken Ihnen für dieses aufschlussreiche Gespräch. Wir wünschen Ihnen noch viele interessierte Mitmacherinnen und Mitmacher und viel Freude bei Ihrem Engagement.

Christa Berz / Margret W.-Simon

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