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Hochbegabung bei Kindern - Gnade oder Fluch?

Intelligenter, talentierter, begabter

Sie können früher lesen und schreiben als andere. sie haben einen ungewöhnlich großen Wortschatz und ein schier unerschöpfliches Fragenreservoir. Sie lernen schnell und brauchen wenig Übung. Sie können sehr viele Informationen behalten, sind besonders sportlich, musikalisch oder künstlerisch begabt. Sie haben ein stark ausgeprägtes Interesse am Experimentieren, stärker ausgeprägte soziale Fähigkeiten, und sie haben einen ungewöhnlichen Sinn für Humor: Hochbegabte Kinder. Solche Fähigkeiten müssen eine Gnade sein glauben wir. Und wir träumen davon, dass uns alles im Leben nur so zufliegt. Dann wären wir glücklich, erfolgreich und reich. Wären wir das wirklich? Vermarktung von Begabung

Wunderkinder sind Medienfutter, zumindest wenn die Begabung im Bereich Musik, Sport oder Kunst liegt. Und wenn die Eltern ehrgeizig genug sind, ihre Kinder nicht nur zu fördern, sondern auch mit ihnen ein Wirtschaftsunternehmen zu gründen, können sie mit ihren kleinen Genies gewinnbringend arbeiten. Manche werden dabei tatsächlich erfolgreich, reich und glücklich. Manche scheitern aber auch gerade an ihrer Begabung und den damit verbundenen Forderungen. Das Tenniswunderkind Jennifer Capriati war dafür ein Beispiel.

Es ist ein Vorurteil, dass Kinder, wenn sie hochbegabt sind, auch gleichzeitig die Fähigkeit mitbringen, sich allein durchzusetzen, problemlos die Schule zu schaffen, um dann eine beruflich Traumkarriere zu machen. Schlagzeilen wie Selbstmord des gescheiten, talentierten Siebzehnjährigen Dalls Egbert im Jahre 1980 zeigen, dass Hochbegabtsein mit einer Vielzahl von Problemen verbunden ist.

Underachievement & Selbstbehinderung

Hochbegabte Kinder können infolge ihrer schnellen Auffassungsgabe, ihrer höheren Gedächtnisleistungen und ihrer besseren Lernfähigkeit ihren gleichaltrigen Mitschülern zwar weit überlegen sein, aber sie nutzen diese Überlegenheit nicht unbedingt. Manche arbeiten - aus welchen Gründen auch immer - unter ihrer Leistungsfähigkeit. Solche Unterforderungen können sich verhängnisvoll auswirken: Verhaltensstörungen, Anpassungs- und Integrationsschwierigkeiten, ja sogar völliges Schul- und Lebensversagen können die Folge sein. Die Gründe für underachievement sind vielfältig. Oft sind es emotionale und motivationale Faktoren oder Faktoren der Umwelt. Aber oft sind die Grunde auch in der Persönlichkeit des Kindes zu suchen.

Gleichaltrigenbeziehungen sind oft mit Problemen belastet, weil das Kind gerade wegen seiner Hochbegabung sehr bald feststellt, dass es anders empfindet, anders denkt und anders handelt. Es fühlt sich deshalb ausgeschlossen. Es ist seinen AltersgenossInnen zwar intellektuell überlegen, aber motorisch kann es oft nicht mithalten, was vor allem ein kleines Kind aus der Bahn wirft. Es empfindet eine starke Beeinträchtigung und ein Zurückgestelltsein. Isolation ist die Folge. Es gibt sogar Kinder, die versuchen, die Hochbegabung zu tarnen. Um zu gefallen und anerkannt zu sein, legen sie es absichtlich auf schlechte Schulnoten an. Es gab schon Fälle, die in der Sonderschule gelandet sind.

Geist und Körper laufen nicht konform

Ein großes Problem liegt auch in der Diskrepanz zwischen den verschiedenen Begabungen eines Kindes. Eine weniger ausgeprägte Begabung kann eine starke Begabung behindern. Muss ein Kind mit einem sehr guten Geometrieverständnis nicht völlig verzweifeln, wenn es dieses ohne zeichnerische Begabung nicht ausdrücken kann?

Besonders auffällig wird die Selbstbehinderung bei der Diskrepanz schon bestehender geistiger Fähigkeiten und noch nicht oder ungenügend ausgebildeter motorischer Fähigkeiten. Für ein Kind, das aufgrund seines hervorragenden Symbolverständnisses eigentlich schon schreiben könnte, dessen Finger aber noch nicht in der Lage sind, den Stift angemessen über das Papier zu führen, eine erschütternde Erfahrung.

Negative Umweltreaktionen

Kinder, die intellektuell sehr weit sind, werden von den Erwachsenen oft wie ihresgleichen Gehandelt. Emotional sind sie aber erst auf dem altersmäßigen Stand. Die Erwachsenen freuen sich über das kluge Kind, vergessen dabei aber, dass es nicht nur geistige Anregung benötigt, sondern auch noch so geschmust werden will, wie es seinem Alter entspricht.

Auch die Menschen der Umgebung reagieren nicht unbedingt positiv auf hochbegabte. Im Gegenteil: Neid und Eifersucht oder einfach nur Unwissenheit führen zu Ablehnung. Die Stärke des Kindes wird zu einer Schwäche gemacht. Das führt zu Stress, Unsicherheit und schlechter Anpassung bei dem so degradierten Kind. Fast genauso schädlich aber ist, wenn Eltern ihr hochbegabtes Kind leistungsbezogen dressieren. Sie erwecken so den Eindruck, die Begabung sei der einzige Aktivposten des Kindes. Unzufriedenheit mit der Welt und den Bräuchen

Hochbegabte Kinder schätzen Logik und rationale Ansätze. Ihre Umgebung, die Sitten und Bräuche, Regeln und Grenzen, sind aber alles andere als logisch und oft einfach willkürlich gesetzt; schwer zu akzeptieren für ein Kind. das stark über Welt und Weltgeschehen reflektiert. Dass eine solche Auseinandersetzung in Rebellion, Zynismus oder Frustration münden kann, sollte uns nicht wundern. Ärger über sonderbare Regelungen beispielsweise beim Steuerrecht sind keinem Erwachsenen unbekannt, Nachdenken über Leben und Tod lässt jeden Philosophenkopf rauchen. Bei hochbegabten Kindern jedoch führt eine so frühe emotionale und soziale Problemauseinandersetzung zu Verhaltensauffälligkeiten und einer sehr frühen Existenzkrise.

Erwachsene, die mit hochbegabten Kindern konfrontiert werden, müssen zu allererst lernen, dieses Anderssein zu erkennen und anzunehmen. Sie müssen ihre Kinder gefühlsmäßig unterstützen, der Isolation entgegen wirken und ihnen beibringen, dass Intelligenz nicht alleine zählt, sondern auch andere Wesenszüge wichtig sind. Sie müssen ihnen helfen, ein positives Selbstkonzept zu entwickeln. Gleichzeitig dürfen die einzigartigen Fähigkeiten aber nicht unterdrückt werden. Eine überaus heikle und schwierige Erziehungs- und Lebensaufgabe, zumal eine Früherkennung von bestimmten Begabungen nicht immer gelingt.

Lernautonomie als Merkmal von Genies & Wunderkindern

In Europa und speziell auch in Deutschland wurden Hochbegabte bis vor wenigen Jahrzehnten eigentlich nicht untersucht. Einzig über so genannte Genies, wie z. B. Goethe, gibt es wenige Protokolle, die die Persönlichkeitsmerkmale solch berühmter Menschen beschreiben. Die besondere Fähigkeit von Genies besteht darin, besonders schnell zu lernen, wie gelernt wird. Diese Lernautonomie umschließt sowohl Intelligenz, Kreativität und Problemlösen, aber auch das Problemfinden und soziale Fähigkeiten, wie z. B. Führungsqualitäten. Wichtiger jedoch als eine Definition des Phänomens "Hochbegabung" ist das Erfassen von Hochbegabungscharakteristika, damit eine Früherkennung und dadurch Hilfe möglich ist. Denn die kleinen Genies sehen die Welt anders, feiner und Komplexer, als andere Kinder.

Bis vor wenigen Jahren war der IQ-Wert - gemessen mit Leistungstests, Persönlichkeitstests und individuellen Intelligenztests - ausschlaggebend dafür, ob und wie hochbegabt ein Kind ist. Der durchschnittliche IQ liegt beim Wert 100, der Grenzwert zur Hochbegabung bei 130, und die Höchstbegabung beginnt bei 160 und mehr. Die allgemeinen Schwierigkeiten von solchen IQ-Tests (Schwankungen aufgrund von Motivation, Umgebungseinflüssen und Befinden des Kindes) werden zwar angeblich dadurch aufgehoben, dass nur ein mehrmaliges gutes Abschneiden der Kinder ihre Hochbegabung aufzeigt. Aber ob ein ständiges Testen wirklich hilfreich für das Kind ist, ist zu bezweifeln. Außerdem ist der Wert der von durchschnittlich begabten Testern erstellten Items für sehr viel höher begabte Kinder zumindest in Frage zu stellen. Denn nicht das Wissen dieser Kinder ist es, dass ihre Begabung ausmacht, sondern ihre ganz spezielle Art anders zu denken. Trotzdem sind die Tests nach wie vor ein wichtiges Hilfsmittel zur Beurteilung von Hochbegabung. Allerdings nur dann, wenn eine besondere Begabung bei einem Kind vermutet wird.

Förderung hochbegabter Kinder

Programme für Hochbegabte sind durchaus nichts Elitäres, sondern werden erst von der Gesellschaft zu solchen gemacht. Programme für Hochbegabte sind vielmehr dazu da, diesen Kindern die Chance zu geben, mit ihrer Begabung umzugehen und angemessen lernen zu können. Auf einer ersten Tagung in Deutschland zum Thema "Das hochbegabte Kind" (1985) wurde eine stärkere Förderung dieser Kinder gefordert. Einsicht in die Problematik besteht bereits, die nötigen innovativen Programme existieren aber noch nicht. Hochbegabtenforschung und -förderung steht in Deutschland - mal abgesehen von der Förderung spezieller sportlicher oder musischer Begabung - noch am Anfang. Im Mittelpunkt schulischer Bemühungen steht die Breitenförderung. Ein wesentliches Ziel dabei war lange Zeit v. a. die Übergangsquoten von der Grundschule zu weiterführenden Schulen zu verbessern und einem möglichst hohen Anteil zur Allgemeinen Hochschulreife zu verhelfen, eine Schulausbildung der Mitte also, bei der weder für Hoch- noch für Minderbegabte ein Platz ist. Beide benötigen aber besondere Programme, die den stark vom Durchschnitt abweichenden Fähigkeiten gerecht werden.

Während es schon längere Zeit Sonderschulen für langsamere Schüler gibt, kamen die talentierten bisher noch zu kurz. Laut TAZ (Oktober 1987) gibt es in unserem Land die Möglichkeit, Sommerkurse oder Fernunterricht zu belegen - hauptsächlich von den Eltern, selten über Stipendien Finanziert. Aber können Sommerkurse die Benachteiligung während der ganzen übrigen Schulzeit ausgleichen? Sollte nicht vielmehr in unserem Schul- und Vorschulsystem etwas für hochbegabte Kinder getan werden? Dazu wäre allerdings ein sehr viel flexibleres System nötig. Weiterbildungsprogramme für Lehrer wären ein schritt. Ein besseres Beratungsprogramm für Eltern der nächste. Auch ein integratives Schulsystem das sich auf die unterschiedliche Lerngeschwindigkeit aller SchülerInnen einstellen kann, wäre wünschenswert.

Seit 1978 besteht z. B. in Hamburg die "Gesellschaft zur Förderung hochbegabter Kinder e.V.", in Berlin berät die DGhK (Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind). Letztgenannte Gruppe trifft sich einmal im Jahr zu Ostern zu einem Lernlager. Die zahlreichen Anfragen von Eltern mit hochbegabten Kindern zeigen, dass es noch eine ganze Reihe von Problemen zu bewältigen gibt.

Gabriele Merziger

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