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Michigan Womyn’s Music Festival 1996

Mein erster Besuch in den USA führte mich zum 21. Frauenmusikfestival vom 13. - 18. August. Es war ein Erlebnis, das mich heute noch beeindruckt, und damit ihr alle etwas davon mitbekommt, bringe ich es nun zu Papier.

Michigan (Bundesstaat) liegt im Nordosten der USA; Grand Rapids oberhalb von Chicago. Vom Flughafen in Grand Rapids war es möglich, mit dem dafür eingerichteten Shuttlebus bis zum Festivalgelände zu fahren. Mit einem PKW oder Motorrad ist das Gelände gut zu erreichen, mit öffentlichen Transportmitteln gar nicht. Die Fahrzeuge (auch Fahrräder) mussten im Eingangsbereich abgestellt werden. Es gab Stellplätze für Wohnmobile und Wohnwagen auf dem Platz.

Das Gelände selbst ist außerhalb von Dörfern, besteht vorwiegend aus Wald, hat ein paar Wiesenstücke und liegt etwa zwei Autostunden nördlich von Grand Rapids. Angeblich noch eine Autofahrstunde bis zum Lake Michigan (der ungefähr 1/3 so groß ist wie die BRD). Nach meinen Informationen kauften die Organisatorinnen dieses Gelände und seit dem 4. Festival findet es dort statt. Das Festivalgelände erstreckt sich über ein bis eineinhalb Quadratkilometer, das gesamte Gebiet ist jedoch noch viel größer und bietet viel Raum für Spaziergänge. Dieses Jahr kamen knapp fünftausend Frauen aus über 20 verschiedenen Ländern dort zusammen, beim 20. Festival sollen es ungefähr zehntausend gewesen sein.

Es begann dienstags, montags ab zwölf Uhr war Einlass. Das Ticket konnte vorher bestellt werden (250$, ca. 380 DM). Es war aber kein Problem, dort erst eins zu kaufen (mit Karte, bar oder mit Scheck). Der Eintrittspreis beinhaltete alles (Zeltplatz, Trinkwasser, Essen, ausführliches Programmheft mit allen Infos, Workshopbesuche, Konzerte, medizinische Versorgung usw.). Kaffee, Süßzeug, Zigaretten usw. konnten dort gekauft werden. Außerdem musste frau innerhalb der fünf Tage noch zwei mal vier Stunden allgemeinnützigen Arbeitsdienst leisten. Dies war in jedem Arbeitsfeld und zu jeder Tages- und Nachtzeit möglich. Bei späterem Einlass verringerte sich der Eintrittspreis und der Arbeitsdienst. Die "Festivaljungfrauen" (Erstbesucherinnen) wurden schon am Eingang mit Hallo begrüßt. Es sollen dieses Jahr etwa tausend gewesen sein.

Das Ganze war überwältigend gut organisiert und strukturiert. Durchgängig fuhren Shuttle-Busse auf dem Hauptweg des Geländes. Die allgemeinen Plätze waren rolligerecht erreichbar. Es gab einen Bus mit Lifter. Körperbehinderte Frauen und ihre Begleiterinnen hatten die Möglichkeit, in einem speziellen Campinggebiet zu zelten oder mit Wohnmobilen in einem behindertengerechten Gebiet zu stehen. Dort gab es auch ein Koordinationszelt und Helferinnen für Zeltaufbau und Festivalalltag. Für gehörlose Frauen wurde alles in Gebärdensprache übersetzt (jeder Film, jede Ansage, alle Musiktexte und Darbietungen). Es waren insgesamt zweiundzwanzig Übersetzerinnen tätig.

Für Frauen mit Kindern gab es verschiedenen Zeltgebiete: mit Kindern bis zu drei Jahren, mit Töchtern ab vier, mit Söhnen von vier bis zehn Jahren (diese durften nicht mit auf das Hauptgelände). In allen Kindercamps gab es tagsüber Kinderaktionen und Tagesbetreuung. Im Jungencamp gab es auch nachts Betreuung und tagsüber Ausflüge ins Umland.

Weitere Campingegebiete für verschiedene Geschmäcker waren für über Fünfzigjährige, SM-Zone, Wohnwagen und Wohnmobil, alkoholfreies Gebiet, ruhiges Camping und natürlich viel Platz ohne speziellen Hintergrund. Zum Großteil lagen diese Plätze im Wald. Für Frauen ohne eigenes Zelt standen ca. fünf große Zelte mit jeweils 15-20 Schlafplätzen bereit.

Von Dienstag bis Sonntag (9-17 Uhr) fanden die verschiedensten Workshops statt, etwa fünfzig pro Tag. Es konnten spontan auch welche organisiert werden. Über den Tag und die Nacht verteilt liefen vier bis fünf unterschiedliche Filme. Von 10-17 Uhr konnte frau im Basar bummeln gehen. Dort hatten Handwerkerinnen, Künstlerinnen und Händlerinnen etwa 140 Stände aufgebaut.

Auf der Tages-, Akustik- und Nachtbühne traten täglich etwa neun Gruppen unterschiedlicher Musikrichtungen auf (ca. vierzig in der ganzen Woche). Nach meiner Einschätzung waren es weniger die superbekannten Gruppen. Sie kamen mir vor wie Bands, die in bestimmten Regionen schon wesentlich bekannter als Geheimtipps sind und inzwischen etwas größere Säle füllen. Die meisten kamen aus den USA; einige auch von außerhalb. Die einzigen Performerinnen aus Germany war die Frankfurter Band Kick La Luna, die freitags auf der Tagesbühne spielte.

In der Downtown (Stadtmitte) des Geländes gab es Gemeinschaftszelte für Frauen mit Kindern, schwarze Frauen, behinderte Frauen, jüdische Frauen, Frauen über vierzig Jahre, ein allgemeines Infozelt und ein Gesundheitszelt (the Womb). Im Zelt für emotionale Unterstützung (Oasis) fanden täglich verschiedene Supportinggroups (Selbsthilfegruppen) statt für einsame, heterosexuelle, bisexuelle und (oder) junge Frauen, auch war es dort tagsüber und abends möglich, eine Ansprechpartnerin zu finden. Im Sober Support Tent (Unterstützungszelt für Nüchterne) trafen sich betroffene Alkoholikerinnen, (erwachsene) Kinder von Alkoholikerinnen, Überlebende von sexueller Gewalt, Frauen mit Eßstörungen und Nikotinsüchtige. Auf dem Gelände gab es nur Gemeinschaftsfeuerstellen (eine war abends ein Trommeltreffpunkt).

Und da waren warme Freilandduschen, massenweise blaue Chemieklo-Häuschen (die jede Nacht von 12-1 Uhr von Männern mit zwei LKWs geleert wurden), ein Briefkasten und Telefonhäuschen. Tiere durften nicht mitgebracht werden. Im Country Store gab es von Tampons über Briefmarken, Klappstühle, Sonnencreme bis zur Einwegkamera so ziemlich alles, was frau plötzlich im Festivalalltag unbedingt noch haben muss.

Das vegetarische Großküchenzeltessen dreimal täglich war reichlich und schmeckte mir sehr gut. Es gab viel Gemüse, Salate mit tollen Saucen, Obst, Tofu, Joghurt, viel Kolbenmais und Melonen. Die Temperaturen waren etwa wie bei uns. Nachts konnte es schon recht kühl werden (Sweat-Shirt und dünne Jacke waren ausreichend), tagsüber mit knalliger Sonne auch gut heiß. Wir hatten bis auf die letzte Nacht so gut wie keinen Regen, ein oder zwei Tage waren bewölkt. Deshalb gab es jede Menge Staub. Bei manchen Festivals soll es auch schon sehr matschig gewesen sein...In jedem Fall sind Sonnenhut, waschbare Sandalen, Regenkleidung, regendichtes Zelt und Taschenlampe angebracht. Mir sind keine Zecken begegnet, aber abends ausreichend ärgerliche Moskitos. Das Trinkwasser wurde direkt aus dem Land gewonnen, es schmeckte gut und war überall zugänglich.

Damit jährlich all diese Frauen kommen, das "Dorf" für eine Woche bevölkern und eine solche Stimmung aufbauen können, arbeiten schon ab drei Wochen vor bis eine Woche nach dem Festival etwa 450 Arbeiterinnen, aus zig Ländern, täglich acht Stunden auf dem Platz. Sie bekommen die ersten drei Jahre freie Verpflegung und erst ab dem vierten Jahr einen geringen Geldbetrag. Trotzdem gibt es angeblich mehr Nachfragen als "Arbeitsplätze".

Ich habe diese Tage dort sehr genossen. Zwischen so vielen Lesben (schätzungsweise 80-90 Prozent der Anwesenden fühlte ich mich ziemlich zu Hause, vermisst habe ich eigentlich nur meine Liebste, die leider zu Hause geblieben ist, denn überall sind die Paare scharenweise herumgelaufen und von lesbischer Liebe wurde gesunden. Es war Lesbenkultur pur, und die war sichtbar, hörbar, spürbar, käuflich (Handwerk und Kunst) und manchmal hatte ich das Gefühl, ich könnte sie riechen.

Helma Eller

Kontaktadresse:

W.W.T.M.C., P.O. Box 22, Walhalla, MI 49458. USA.S

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