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Wehrhafte Diakonisse

"Die Zeit war für mich wirklich bedeutungsvoll", sagt Schwester Ria, als ich sie über die Ereignisse im Darmstädter Elisabethenstift nach der Machtübernahme der Nazis befrage. Sie sitzt in Schwesterntracht in ihrem Zimmer im Mutterhaus des Stifts und hat trotz ihrer 94 Jahre nichts von dem vergessen, was auch in ihrem Leben damals einen starken Einschnitt darstellte.

Immer mehr lässt sie sich aufs Erzählen ein. Lebhaft berichtet sie von Pfarrer Hickel, dem damaligen Leiter des Elisabethenstiftes. Schon zu Beginn der NS-Herrschaft wurde er zum Kultusministerium bestellt. Unter anderem wurde ihm vorgeworfen, dass am 1. Mai 1933 die Hakenkreuzfahne nicht gehisst worden war, dass er über Texte aus dem Alten Testament predigte, und dass die Diakonissen beim Hitlergruß den gewünschten Eifer missen ließen. Der Unterricht der jungen Schwestern und jeglicher Kontakt zu den Diakonissen wurde ihm untersagt und schließlich musste er gehen.

Auch sein Nachfolger, Pfarrer Lenz, war als Mitglied der "Bekennenden Kirche", der auch viele der Schwestern angehörten, nach einiger Zeit für die Gestapo nicht mehr akzeptabel, zumal er als anfänglicher Parteigenosse aus der NS-Partei wieder ausgetreten war. Nach Jahren der Drangsalierung mit häufigen Durchsuchungen im Elisabethenstift und im Pfarrhaus durch die Gestapo nd die ständige Überprüfung der Schwestern auf "politische Zuverlässigkeit" kam es im Juni 1939 zu den Begebenheiten, die Schwester Ria als "Einbruch des NS-Staates in das Diakonissenhaus Elisabethenstift" bezeichnet.

Am 9. Juni 1939 spitzten sich die Ereignisse zu. Pfarrer Lenz als Leiter des Hauses und der Gesamtvorstand wurden abgesetzt und durch einen aus der Kirche ausgetretenen Kommissar ersetzt. Die Oberin Clothilde von Gemmingen und ihre Stellvertreterin, Diakonisse Hannah Blaul, wurden ebenfalls ihrer Ämter enthoben.

Am 29. Juni berief der Kommissar eine Schwesternversammlung ein, gab die Entlassungen bekannt und stellte zwei Schwestern eines anderen Hauses als künftige Oberinnen vor. Hier zeigte die junge Schwester Ria großen persönlichen Mut. Sie trat vor den gefürchteten Kommissar und versuchte, den Protest der gesamten Schwesternschaft vorzubringen. Es gelang ihr nicht, nach den ersten Worten wurde sie angeschrien und unflätig beschimpft. Es wurde ihr jede Berechtigung abgesprochen, einen solchen Protest zu äußern. Auch sie wurde daraufhin ausgewiesen, sie musste das Elisabethenstift verlassen.

Die Hakenkreuzfahne wehnte nun allmorgendlich im Garten des Pfarrhauses, in dem eine NS-Schule für Krankenschwestern eingerichtet war. Dennoch ist es nicht gelungen, das Elisabethenstift jemals in einen NS-Betrieb zu verwandeln. Die Diakonissen blieben trotz aller Schikanen ihrem christlichen Auftrag treu, nur wenige sind dem NS-Reichsbund beigetreten.

Schwester Ria kehrte zunächst zurück in ihr Elternhaus in Oberhessen, wo sie einst mit acht Geschwistern aufgewachsen war. Zeitweise lebte sie dann im Mutterhaus in Detmold, leitete in Mainz ein Altenheim, bis dieses im Krieg ausgebombt wurde. Dann kehrte sie in ihr Heimatdorf Ober-Hörgern zurück und arbeitete im Auftrag des dortigen Pfarrers in drei Dörfern. Sie erteilte Religionsunterricht, hielt Kindergottesdienste, leitete Frauenkreise und kümmerte sich um Kranke. An diese Zeit als Pfarrhelferin erinnert sie sich besonders gern.

Erst nach dem Krieg und nach längerer Krankheit kehrte Schwester Ria 1946 ins Elisabethenstift zurück. Die durch den Komissar geschlossenen Ausbildungsstätten wurden nach und nach wieder eröffnet: zuerst die Krankenpflegeschule, danach das Kindergärtnerinnenseminar. 1949 eröffnete das Elisabethenstift ein "Seminar für gemeindliche Dienste". Aus dieser Einrichtung entwickelte sich eine "Höhere Fachschule", die 1971 in den Fachbereich III der Evangelischen Fahhochschule Darmstadt überging. 1959 eröffnete das Stift die Altenpflegeschule. In allen vier Ausbildungsstätten erteilte Schwester Ria Unterricht. Lange Jahre war sie auch Stellvertreterin der Oberin, bis sie mit 77 Jahren in den wohlverdienten Ruhestand ging. Die 1939 geschlossene Elisabethenschule, die zum Stift gehörte und Mädchen bis zur Mittleren Reife ausbildete, wurde nach dem Krieg nicht wieder eröffnet. Schwester Ria hatte vor ihrem Eintritt ins Diakonissenhaus neun Jahre lang an dieser Schule als Lehrerin gearbeitet.

Barbara Obermüller

Literatur:

  • Seniorenrat (Hrsg.), Erlebte Vergangenheit, Darmstadt 1980,
    Roether Verlag, Band V, S. 143 ff.)

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