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Behutsame Veränderung der Peripherie

Antigone (s.unten) widersetzte sich unbeirrt, aber ohnmächtig gegen die scheinbar unbeirrbare Allmacht. Sie erhob ihre Stimme, alleine, gegen das vom Menschen - wenn auch vom König - gemachte Gesetz und stellte ihm entgegen das Göttliche, das ungeschrieben in das menschliche Herz eingegebene, nicht heute und gestern nur, ...und niemand weiß, woher es gekommen ist; man kann es Gewissen nennen. Und sie entschied sich für sich selbst und vollbrachte alleine die notwendige, aber verbotene Tat: die Beerdigung ihres von könig Kreon verfemten Bruders, wissend um den Preis dafür. Zornig wehklagend über das Unrecht, das im Namen des Herrscherrechts einzelnen Menschen geschehen kann, ging sie einsam in den Tod. Ihr Tod aber löste andere Klagen aus; ihr Verlobter, des Königs Sohn Hämon, erstach sich angesichts seiner toten Braut, uns seine Mutter zögerte nicht, sich zu erhängen, als sie die Nachricht über den Tod ihres Sohnes erhielt. Und der König? König Kreon, der für die Trauer Antigones um ihren Bruder kein Ohr hatte und dessen würdige Beerdigung per Gesetz verbot, zerbrach an der Trauer um seine Lieben; an der Verwirrung über seine Allmacht. Von all dem aber vernahm Antigone nichts mehr.

Antigone ist radikal, nicht nur in ihrer Überzeugung, sondern viel mehr in ihrer Einsamkeit.

Die Einsamkeit Antigones spricht. Sie spricht mich an, Sophokles lässt verschiedene Personen sprechen, deren Stimmen diese Einsamkeit noch zusteigern scheinen. Ismene, Antigones Schwester, ist beängstigt von deren kühnen, ja halsbrecherischem Entschluss: "Ich folge denen, die im Amte stehen. Unmögliches zu wollen, ist sinnlos." (siehe Bemerkung unten) Sie rät und verspricht: "Tu's ganz geheim. Ich werd zu keinem sprechen." Und der Wächter, dienstbeflissen und kleinmütig, erwischt Antigone auf frischer Tat und bringt sie zum König: "...dass man selbst entflieht aus Üblen, ist das Angehmste, doch ins Unglück Freunde zu bringen, ist betrüblich. Doch dieses alles ist kleiner als mein eigenes Heil zu nehmen." Und der Chor, der immer schön verallgemeinerd spricht, greift auch nicht persönlich ein, wenn ihm das Gesetz des Königs unrecht erscheint: "Es liegt bei dir, so zu verfahren, Kreon, so mit dem Feind und so mit dem Freund der Stadt. Und das Gesetz gebrauchst du überall, für die Toten und die Lebenden." Und das Volk da draußen munkelt nur im finstern, dass Antigone, die Ruhmvolles getan, in ungerechter Strafe bestraft sei. Die Stimme des Volkes wird nicht laut, weil des Königs Blick für das Volk zu furchtbar ist, wie Hämon den Vater warnt.

Mit rührender Aktualität wirken diese Stimmen aus der fernen, fernen Menschengeschichte jetzt auf uns, Stimmen um die eine Stimme Antigones: "Auch dacht ich nicht, es sei dein Gesetz so sehr viel, dass einer, der sterben muss, ...die festen Satzungen im Himmel brechen sollte." Und uns ist es überlassen, mit wessen Worten und Haltung wir uns identifiziern möchten, könnten. Vielleicht mit jedem ein bisschen?

Warum jetzt "Antigone"?

Hat diese mehr als 2400 Jahre alte, blutige Familientragödie uns noch mehr zu sagen, als dass die menschliche Reaktion auf die Obrigkeit oder herrschende Meinung sich nicht sehr viel geändert hat? Und mehr als die Tatsache, dass es immer Menschen gibt, die sich widersetzen, so oder so? Vor allem jetzt in unserem demokratischen Alltag, wo Widerstände ein Punkt der Tagesordnung geworden sind? Ist die Radikalität Antigones noch aktuell? Ich möchte es bejahen, aber nicht um ihres selbstzerstörerischen, zornigen Eigensinnes willen.

Antigone ist radikal.

Aber ihre Radikalität zeigt sich nicht nur in ihrer Überzeugung, sich gegen die Tyrannei des Herrschers zu stellen, sondern vielmehr in ihrer Einsamkeit: Sie allein erkannte das Unrecht - intuitiv - und beschloss, allein dasjenige auszuführen, das sie als menschenwürdig erachtete, wissend, es werde ihr Leben kosten. Und diese Einsamkeit rührt nicht daher, weil sie störrisch war, sondern weil ihre Überzeugung eben intuitiv geschah. Intuition ist etwas, was nicht analytisch erklärt werden kann, also grenzt sie fast an Unvernunft - ja, oft wird sie als solche verkannt. Unvernünftig, gar irrational nennt man auch Gefühle und sie stehen dann als minderwertige Gegensätze zum Verstand, zur Vernunft. Wir erleben oft, dass das intuitiv Erkannte richtig ist, ohne diese Richtigkeit erklären zu können. Wir weichen dann unsicher und vage zu einer Formulierung aus wie "ich fühle mich aber so...". Antigone erklärt nicht, sie beruft sich nur auf "ihren" Zeus. Kreon dagegen hat Gründe, warum er dieses Verbot über die Beerdigung des Polykeines und die Todesstrafe gegen die Widrigkeit verhängt: Staatliche Ordnung, moralische Kontrolle, ...Und es ist vernünftig, weil es um die Sicherheit des Kollektives geht, nicht um die dem widersprechenden Gefühlen des einzelnen. Der Widerstand Antigones ist also unvernünftig. Sie ist unvernünftig: sie ist gegen-vernünftig. Ihr Widerstand ist radikal, nicht im Sinne der Rücksichtslosigkeit oder des Extremismus, sondern im ursprünglichen Sinne des Wortes: an die Wurzel gehend, oder von der Wurzel herstammend. Das macht Antigone einsam, und sie weiß es. Und sie kann nicht anders. Wenn nichts weiter wäre an dieser Geschichte, bliebe ihr Widerstand nur eine alte heroische Tragödie und schenkte uns nicht einmal Trost. Sophokles Botschaft ist aber verborgen; ich höre darin eine Wendung, die nur in der Zukunft zu realisieren ist, wenn...

Frauen haben vieles in der Gleichberechtigung erreicht. Aber ist das weibliche Denken auch als gleichberechtigt anerkannt?

Hämon, des Königs Sohn, ergreift als Einziger für Antigone Partei - die ihn aber nicht darum bat - widersetzt sich der väterlichen und herrschaftlichen Autorität. Diese Auseinandersetzung zwischen dem Vater und dem Sohn ist erschreckend modern. Was mich rührt, ist aber, dass Hämon nicht um die Gnade für seine Verlobte bitte. Was er will, ist die Umkehr, die Änderung des herrschaftlichen - des männlichen - Denkens. Seine Bitte bezieht sich nicht allein auf das Leben, das Überleben eines Menschen, den er liebt, sondern sie richtet sich auf die Zukunft aller, einschließlich des Herrschers. Er schreit nicht, der König handle gegen das Göttliche, er widerlegt seine Handlung mit einer anderen Weisheit, die universal genannt werden kann: "Denn wer glaubt, er allein habe Gedanken, Sprache, Seele wie kein anderer, wenn aufgeschlossen würde ein solcher Mensch, erschiene er leer." Der Vater unterstellt dem Sohne aber nur die Schwäche eines vom Weibe beherrschten. Der Sohn leugnet es nicht und sagt: " Auch für den Weisen ist es keine Schande, viel zu lernen..."

Hätte Hämon auch von Antigone gelernt? Ich meine ja. Und einzig an dieses Ja knüpfe ich Hoffnung; Hoffnung auf Änderung und Überwindung der Einsamkeit, die sich in ihrer Radikalität nicht ändern lässt. Was aber lernte er, ein Mann, von einer Frau? Dass es nicht nur die Vernunft ist, die den menschlichen Geist ausmacht. Es ist unserer Imagination überlassen, den Lernprozess Hämons auszumachen. Solches Lernen ist nicht in erster Linie sprachlicher Natur. Viele Jahrhunderte später versuchten die Frauen der deutschen Romantik, dieses Un-Sprachliche in die Sprache zu übertragen. Es waren die Stimmen von Innen, die von der Liebe und den Gefühlen, vom Herzen, das sich von Korsetten zu befreien suchte. Sie wurden bald übertönt von politisch bestimmten Frauenbewegungen, dank August Bebel. Seither haben Frauen vieles in der Gleichberechtigung erreicht. Den Frauen sind viele Rechte anerkannt worden. Aber ist das weibliche Denken auch gleichermaßen als gleichberechtigt anerkannt? Haftet ihm nicht doch noch ein leiser, verstohlener Vorwurf an, es sei unvernünftig? Das weibliche Denken, worauf die Rede Hämons gegen seinen Vater sich zu stützen scheint, ist nicht analytisch, sondern synthetisch. Es teilt nicht die Welt in das Gute und das Böse, es ordnet sie nicht in eine Hierarchie, es baut die Welt nicht in ein Begriffsgebäude um, es bedarf nicht der Ordnung der Werte. Es bejaht das Emotionale, das Intuitive, wovor sich die Vernunft fürchtet, alles könnte ins Unwillkürliche geraten und in ein Chaos ausarten. Hämon sagt, Vernunft sei gut, von allem Gut das Beste, aber nur dann, wenn sie die Nicht-Vernunft anerkennen kann, wenn sie fähig ist, unter Umständen eine Umkehr zuzulassen: "Gibt nach, da wo der Geist ist, schenk uns Änderung..." Der Vater tut das nur als weibisch ab, der Sohn stellt sich entschieden neben das Weib.

Stellen wir uns vor: als die beiden Liebenden noch in Frieden lebten, wie mochten sie wohl miteinander umgegangen sein? "Es fügten keine sich, wie er und sie," bestätigt Ismene diese Beziehung. Und ich mutmaße, dass Hämon für die Lehre Antigones empfänglich war, für die von einer Frau wahrgenommene Wirklichkeit, dass er, selbst ein kluger Junge, lernte von Antigone, was seiner männlichen Wirklichkeitsauffassung fehlte. Ist es vorstellbar, dass Antigone gegen Hämon Widerstand leistete? Dass Hämon störrisch war? Dass sie sich stritten, wie wir heute mit und gegen unsere Männer streiten, auf der Suchen nach einem Hämon unter so vielen Kreons?

Die radikale, einsame, unbeirrbar persönliche Sprache eines Menschen, dessen Gewissensinstanz allein in seinem Selbst ist, ist von keiner Institution, von keiner irdischen Macht abhängig.

Sophokles lässt beide sterben. Aber was nachhallt - durch die jähe Trauer des an seiner Allmacht zerbrochenen Kreons - bis hierher zu uns, ist die radikale, einsame, unbeirrbar persönliche Sprache eines Menschen, dessen Gewissensinstanz allein in seinem Selbst ist, von keiner Institution, von keiner irdischen Macht abhängig. Und diese persönliche Sprache ist es, die das Herz Hämons erreichte und als gleichberechtigt mit seiner eigenen durch seinen Mund hörbar werden konnte.

Dies begründet die Hoffnung auf Änderung: im Widerstand gegen die heute noch zahlreichen Kreons, nicht im großen, eher im kleinen, nicht laut, aber zäh im Alltag, unaufhaltsame, behutsame Änderungen an der Peripherie...

Hisako Kashiwagi

Antigone, Heldin einer altgriechischen Tragödie des Dichters Sophokles (497 - 206 B.C.)
Alle Zitate sind aus "Antigone", übersetzt von J.Ch.Friedrich Hölderlin, bearbeitet von Martin Walser und Edgar Selge, insel taschenbuch 1989.

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