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Märchen und Mythen

Die Frau im Märchen - was hat sie mit uns zu tun?

Märchen und Mythen sind uralte Weisheitsgeschichten, wenn dort von Frauen erzählt wird, können wir sicher sein, dass dort auch von uns heute, von mir und dir, erzählt wird.

Immer wieder habe ich als Märchenerzählerin beim Erzählen gespürt, wie viel ich in dieser und jener Geschichte von mir selbst, meiner Angst und meiner Hoffnung erzähle. Steckt doch in jeder Frau eine Königin und eine Hexe, eine falsche, mißgünstige Schwester genauso wie eine sich aufopfernde Frau auf der Suchwanderung durch das Leben, ein Aschenputtel und manchmal eine überempfindliche Prinzessin auf der Erbse.

Ich habe jedenfalls noch keine "Märchenfrau" kennengelernt, deren Wesen ich nicht auch in mir gefunden hätte. Geht das nur mir so? Ich glaube kaum, denn das, was wir als Persönlichkeit oft so einmalig empfinden, ist nur für uns einmalig. Das Ego ist ein sehr allgemeiner Komplex. Denken, Gefühl und Wahrnehmung funktionieren bei allen Menschen weitgehend gleich. Hier geht es ja nicht um Intellekt, der ja wirklich verschieden ausgeprägt sein kann. Hier geht es um das, was wir im Innern unseres Frauseins erleben.

Mütter werden von kleinen Töchtern zunächst bewundert, dann beneidet und wenn sie sich selbständig machen wollen, ist die Kampfansage meist unumgänglich. Davon sprechen die vielen Stiefmuttermärchen. Es handelt sich dort nämlich gar nicht um wirkliche Stiefmütter, sondern um die Mutter, die in bestimmten Entwicklungsphasen eines Mädchens zur Konkurrentin wird. Ist die Tochter dann mit der eigenen Mutter im Klaren, bekommt sie, so ist der Lauf der Welt, eine Schwiegermutter.

Auch hierzu bieten uns Märchen und Mythen reichlich Anschauungsunterricht. Ob es nun Venus persönlich ist, die sich ärgert, dass ihr Sohn Amor seinen Liebespfeil für eine Sterbliche aus dem Köcher holt, wie wir es im Märchen von "Amor und Psyche" von Apulejus nachlesen können, oder ob in Volksmärchen Königsmütter jene Mädchen zu verbrennen gedenken, die ihnen ihre Söhne "gestohlen" haben (Marienkind, Grimm). Wie heißt es doch so treffend im Volksmund:
Die Tochter bringt der Mutter einen Sohn, die Schwiegertochter nimmt ihr einen Sohn. Wie mit solchen Situationen umgegangen werden kann, erzählen Märchen äußerst anschaulich. Die Lektionen, die erteilt werden, sind schonungslos.

Da erlebt eine Mutter, dass sie im Ofen landet, weil sich eine Gretel dumm stellt und die Forderungen, die an sie gestellt werden, nicht mehr erfüllt. Eine andere Mutter erleidet ein ähnliches Schicksal, weil sie sich mit ihrem Altern nicht abfinden kann.

Im Märchen ist es nämlich nicht so wie in unserer Wirklichkeit des 20igsten Jahrhunderts, wo es angeblich nur junge Alte und Junggebliebene gibt, nein, im Märchen wird man alt.

Die Frau im Märchen wird und ist alt, teilweise uralt. Einmal leuchtet sie uns als Weise, als gütige Mutter oder helfende Fee entgegen, dann zeigt sie sich wieder mit allem Haß auf die Jugend, mit vergiftender Rachsucht und zerstörerischer Eifersucht.

Franz Fühmann hat sich Märchentexte angesehen und stellte die Frage - tua res agitur - was nichts anderes heißt, als "deine Sache wird hier verhandelt". Und du, wie hättest du dich hier verhalten? Hier einige Beispiele, die mir zum Thema Frau eingefallen sind.

In "Das singende, springende Löweneckerchen" heißt es: ...da waren die sieben Jahre fast herum, und sie freute sich und dachte, sie wären bald erlöst, uns waren noch so weit davon entfernt - tua res agitur.

Wer kennt nicht dieses Gefühl, einem Ziel ganz nahe zu sein, um plötzlich festzustellen, dass man noch so weit davon entfernt ist? Dann mag es uns gehen, dem armen Katerlieschen, von dem es heißt: "Als es erwachte, stand es da, halbnackt und sprach zu sich selber, bin ichŽs oder bin ichŽs nicht? Ach ich glaube, ich binŽs nicht."

An sich selber irre werden, das ist ein typisches Frauenproblem. Früher kamen viele in die Irrenanstalt, weil sie an ihrer Lebenswirklichkeit verzweifelten aus der man sie ausschloß, weil sie Eigen-sinn hatten.

Deshalb erzählen die über 380 Märchen des Aschenputteltyps auf der ganzen Welt vom "Verlesen" und meinen das Lernen, das Gute vom Schlechten zu trennen, eine Aufgabe, vor die sich Frauen mehr gestellt sehen als Männer. Mit Hilfe unserer Intuition, die mal eine Puppe, mal ein Tier oder eine alte Frau sein kann, müssen Märchenheldinnen lernen zu unterscheiden, um es von dem zu trennen, was uns vergiftet.

Vergiften kann auch ein Fluch. Dann geht es um das Abtauchen in den Schlaf.

Schlafen und aufwachen, das sind richtig märchenhafte Betätigungen. Oft schlafen die geflohenen Märchentöchter in hohlen Bäumen, in Waldhäusern oder wie das berühmte Dornröschen in einem Schloß. Nach dem Erwachen beginnen die Forderungen des Lebens. "Allerleirauh" muss in der Küche hart arbeiten, um lebenstüchtig zu werden, das Schwesterchen aus dem Märchen "Brüderchen und Schwesterchen" muss auf ihr Rehkälbchen aufpassen und sich anschließend mit der Eifersucht ihrer Mutter auseinandersetzen.

Und Dornröschen? Ach, nur bei den Brüdern Grimm ist mit dem Erwachen nach 100 Jahren und einem prinzlichen Kuß alles gut, in "Wirklichkeit" geht das Märchen weiter, und es zeigt sich das bekannte Bild der Schwiegermutter, die den Sohn nicht hergeben kann und will.

Dennoch: Schlafen und Erwachen, das sind Dinge, die wohl jede Frau aus ihrer Biographie kennt. Was und wer schläfert uns ein?

Der Weg zum "Erkenne dich selbst", den die Märchen so unbeirrt fordern, ist weit und anstrengend. Drei Paar eiserne Schuhe müssen Märchenheldinnen auf diesem Weg ablaufen - und wir?

Wenn sich bei einer Frau diese Ahnung von Selbstwerdung rührt, wird sie sofort von den bösen Schwestern attackiert, wobei diese keineswegs von außen kommen müssen. Die inneren Stiefschwestern, die dunklen Teile in uns, die Trägheit des alten Rollenverhalten ziehen uns wieder zurück. Wozu die Anstrengung, ein eigener Mensch zu werden? Die ausgetretenen Pfade sind ja da.

Wie heißt es in der Zauberflöte, "je nun, es gibt ja noch mehr Menschen meinesgleichen": Hier sagt das zwar ein Mann, aber so ein leichtsinniger Papageno tanzt eben auch in unserer Seelenlandschaft herum. Überhaupt können uns Märchen nur dann wirklich etwas sagen, uns einen Spiegel vorhalten, wenn wir annehmen, dass in jedem Menschen, ob Mann oder Frau, Männliches und Weibliches sein Wesen oder Unwesen treibt.

Kein Mensch ist schließlich nur häßlich und faul, oder nur fleißig und schön, nur verderbt und zum Untergang bestimmt oder nur zu Höherem berufen.

Lasse ich aber Märchentexte mit dem Gedanken auf mich wirken, dass alles, was ich da höre oder lese, sich in mir abspielt oder abspielen könnte, dann werden Märchen zur Lebenshilfe, zur unglaublichen Enthüllung meiner geheimsten Regungen.

Im Märchen "Der Eisenhans" hat die Mutter den Schlüssel unter dem Kopfkissen zu jenem Käfig, in dem das Wilde, das Gefühlsstarke eingesperrt ist. Vielleicht sollten wir einmal nachschauen, ob solch ein Schlüssel noch immer unter unserem Kopfkissen liegt. Dann wird es höchste Zeit, ihn freiwillig herauszugeben.

Und was erzählt uns die Geschichte von Rapunzel über deren Mutter.

"Eines Tages stand die Frau am Fenster und sah in den Garten hinab. Da erblickte sie ein Beet, das mit den schönsten Rapunzeln bepflanzt war. Die sahen so frisch und grün aus, dass die Frau den größten Appetit bekam und weil sie wußte, dass sie nichts davon bekommen konnte, wurde ihr Verlangen immer größer" - tua res agitur.

Das Märchen erzählt uns also, welche Früchte die Gier treibt. Sie sperrt uns in einen Turm ein, in das Gefängnis unserer Wünsche.

Doch auch von der Kraft, die diejenige bekommt, die sich nicht unterkriegen lässt, erzählen viele Märchen. So weiß Aschenputtel, dass angemessene Trauerarbeit (sie pflanzte ein Reiß und begoß es mit ihren Tränen) heilende Kräfte gibt, die eines Tages wie Kleider aus Gold und Silber strahlen.

Und der Baum, der jene Früchte trägt, die ich mir auf meiner langen Wanderung verdient habe, zieht seine Zweige zurück, wenn unberechtigte Hände sich dieser Früchte bemächtigen wollen. Nachzulesen bei Grimm "Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein".

Es gibt, nicht nur im Märchen, unberechtigte Hände, die sich holen wollen, was ihnen nicht gehört. Es gibt im Märchen aber auch ein "Mädchen ohne Hände". Wieviele Mädchen und Frauen ohne Hände gab und gibt es in unserer von Männern beherrschten Welt? Wie im Märchen irren wir mit dem neuen Wissen (unserem Kind), das man uns auf den Rücken gebunden hat, umher, wohl wissend, was notwendig wäre, aber handlungsunfähig. Doch auch hier weiß das Märchen eine Lösung. In einer russischen Variante des oben erwähnten Märchens wird uns folgendes erzählt: Die unglückliche Märchenheldin irrt durstend durch den Wald. Als sie einen Brunnen entdeckt, und sich darüberbeugt, um zu trinken, fällt ihr das Kind ins Wasser. In tiefster Not beklagt sie ihr Schicksal. Da befiehlt ihr ein alter Mann, ihr Kind zu retten. Sie versucht es trotz der Aussichtslosigkeit auf Erfolg. Als sie aber das Wasser mit den Armstümpfen berührt, wachsen ihre Hände wieder. Sie rettet ihr Kind, sie rettet sich damit selbst und wird wieder handlungsfähig.

Glauben und Vertrauen heißt alles wagen, Mögliches tun, um Unmögliches zu erreichen. Zugleich erinnern uns Märchen aber auch daran, dass Geduld sicherer zum einmal gesteckten Ziel führt, als unüberlegtes Drauflosstürzen.

Marie Luise von Franz sagt: "Was ich zu früh erzwingen will, wird mich zerstören." Die Frau im Märchen kann uns an die Hand nehmen, denn sie ist die weiblichen Wege alle schon gegangen.

Der Weg zur Erkenntnis hat nie ein Ende, aber immer wieder einen neuen Anfang.

Ute Helbig

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