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Wohnungslos

Der tägliche Kampf um die Menschenwürde und das Recht auf Wohnung

Durch lauten Gesang wache ich auf. Verschlafen schaue ich auf meinen Wecker. Es ist fünf Uhr morgens. Die ersten Sonnenstrahlen scheinen unsere neuen Nachbarn gegenüber in der Grünanlage geweckt zu haben. Laut höre ich den Schlager: "Heimatlos sind viele auf der Welt..." zu uns herübertönen. Beim Frühstück fragt uns unsere Tochter: "Haben die beiden wirklich kein Zuhause und niemanden, wo sie wohnen können?" Sie macht sich ihre Gedanken über die beiden Obdachlosen, die seit einigen Nächten zwei Parkbänke bewohnen.

Über eine Million Menschen sind in Deutschland obdachlos, davon sind 29 Prozent Frauen, 31 Prozent Kinder und Jugendliche (Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnunglosenhilfe e.V.) Die Tendenz ist steigend. Obdachlos sein bedeutet nicht nur wohnungslos zu sein. Ohne Familie, ohne Arbeit, ohne Freunde, ausgegrenzt, ganz unten und angefeindet von der Gesellschaft, als Faulenzer beschimpft, kämpfen die Wohnungslosen einen schier aussichtslosen Kampf um Anerkennung und Achtung ihrer Menschenwürde.

Wir lesen Schlagzeilen wie "Zahl der Obdachlosen steigt" oder "10 Obdachlose in diesem Winter erfroren" nicht gern. Armut macht beklommen, die Verdrängung ist groß. Auf der Straße werden große Bogen um bettelnde oder herumlungernde Gestalten gemacht. Sie werden als Penner, Faulenzer und Schmarotzer beschimpft. Tatsache aber ist, dass nur ein kleiner Teil der Obdachlosen sichtbar wird. Das große Heer der Armen bleibt unsichtbar. Die Ursachen dafür, dass der Kranführer oder die Biologin ohne Unterkunft ist, sind vielfältiger Natur. Familienprobleme, Krankheit, Trennungen, Arbeitslosigkeit, jeden kann es treffen. Jede Person hat ihre eigene, individuelle Geschichte. Die Situation dieser Menschen ist für uns "Durchschnittsbürger" unvorstellbar. Jeden Tag auf der Straße, jeden Abend die Suche nach einem Schlafplatz: die Parkbank, ein Abbruchhaus, ein Bretterverschlag, eine Einkaufspassage, ein Kircheneingang oder eine Tiefgarage dienen zur Übernachtung. Massenunterkünfte, die in vielen Kommunen zur Verfügung stehen, werden bei den Wohnungslosen als Läusepensionen bezeichnet, sind nicht beliebt.

Im Freien oder in Unterkünften sind sie Gefahren ausgesetzt. Sie werden unter Umständen ihrer einzigen Habe beraubt. Frauen und junge, unerfahrene Wohnungslose sind besonders gefährdet. Frauen begeben sich in Abhängigkeiten, die Bindungen wechseln ständig. Frauen oder junge Leute kriechen, um der Obdachlosigkeit zu entgehen, immer öfter bei Freunden oder Verwandten unter. Dadurch tauchen sie als Wohnungssuchende in Statistiken nicht auf. Um nicht auf der Straße zu stehen, lässt sich manche junge Frau mit ungeliebten Wohnungsbesitzern ein. Diese Unterkünfte sind häuft mit sexueller Verfügbarkeit, Vergewaltigung und Mißhandlung verbunden.

"Ich schlafe draußen - nicht immer - aber immer öfter", heißt beispielsweise ein Plakat, das anlässlich einer Plakataktion der Teestube für Wohnungslose auf riesigen Wänden veröffentlicht wurde. Die Unterstellung "Die wollen es ja nicht anders!" ist schlicht unverschämt. Folkert Kiepe vom Deutschen Städtetag schätzt, dass sich 70 Prozent der Obdachlosen ohne weiteres wieder in normale Wohnverhältnisse integrieren ließen (in Darmstadt äußern laut Armutsbericht 95 Prozent der Wohnungslosen diesen Wunsch). Denn die Empfehlung der Sozialämter, sich Arbeit zu suchen, greift nur, wenn eine Adresse vorhanden ist. Der Teufelskreis, dem schon der "Hauptmann von Köpenick" ausgeliefert war, schließt sich hier.

In der "Teestube Konkret" vom Diakonischen Werk, die nun seit acht Jahren besteht, können sich die Obdachlosen ohne Ansehen der Person tagsüber aufhalten. Die Wäsche kann gewaschen und getrocknet werden, es wird gemeinsam gekocht, zusammen gesessen. In der angeschlossenen Fachberatungsstelle für alleinstehende Wohnungslose erhalten Menschen ohne Bleibe Hilfe zur Existensicherung und psychosoziale Hilfe. Ein in Hessen bisher einzigartiger Leitfaden für Wohnungslose wurde von Mitarbeiterinnen der Beratung erarbeitet. Alle wichtigen Adressen städtischer und caritativer Einrichtungen, sowie Adressen von Wohnungsbaugesellschaften und Maklern sind in dieser Broschüre vermerkt.

Ein hoher Prozentsatz der wohnungslosen Menschen ist krank. Schamgefühl, mangelnde Wertschätzung und fehlendes Gesundheitsbewußtsein verhindern den Gang zum Arzt. Seit kurzem finden Sprechstunden in den Räumen der Teestube statt. Das Gesundheitsprojekt wird bisher allein aus Spenden finanziert.

Obdachlosigkeit ist die extremste Form der Armut.

Die von den Kommunen angemieteten Etagenhotels oder ehemalige Absteigen sind ebensowenig eine Alternative wie Übergangsheime. "Es dürfen in den Großstädten nicht wieder reine Obdachlosenviertel entstehen, die in den siebziger Jahren mit großen Mühen aufgelöst wurden", sagt Folkert Kiepe vom Deutschen Städtetag. Aber nicht selten verirren sich Menschen im Zuständigkeitsdickicht der verschiedenen Ämter. Wohnungsnotstand (318 Fälle in Darmstadt, Mai 1996) muss behoben werden. Durch rechtzeitige, unbürokratische Unterstützung der Ämter könnte mancher Mietrückstand vermieden und der Erhalt der Wohnung gesichert werden.

Die Bundesregierung muss endlich eine Wohnungsnotfallstatistik einrichten, um das Ausmaß der Wohnungslosigkeit sichtbar und präventive Maßnahmen

Ursula Weßling

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