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Armut in einem reichen Land

- ein Armutszeugnis für Deutschland -

In der Bundesrepublik Deutschland, die immer noch über eines der leistungsfähigsten Sozialleistungssysteme überhaupt verfügt, ist Armut nach wie vor ein Problem, das nicht ausgemerzt ist. Mehr noch, es gibt Indizien, die dafür sprechen, dass es zu einer zunehmenden Verarmung von vormals nicht betroffenen Bevölkerungsgruppen kommt. Seit Beginn der achtziger Jahre wird zunehmend von der "Neuen Armut" gesprochen. Kennzeichnend für diese "Neue Armut" ist die Zunahme der Einkommensarmut durch Arbeitslosigkeit, insbesondere durch Dauerarbeitslosigkeit. Die Ursache hierfür liegt darin, dass immer mehr Arbeitslose aufgrund der Dauer ihrer Erwerbslosigkeit aus dem Leistungsbereich der Arbeitslosenversicherung herausfallen und zu SozialhilfeempfängerInnen werden. Das Auffangsystem der Arbeitslosenversicherung greift nicht mehr und die Sozialhilfeklientel vergrößert sich um einen Teil, der eigentlich nicht von der Sozialhilfe versorgt werden sollte. Gleichzeitig werden die von Dauerarbeitslosigkeit Betroffenen immer jünger, der Begriff der Jugendarbeitslosigkeit wird immer häufiger in der öffentlichen Diskussion gebraucht. Hinzu kommt die zunehmende Armut unter kinderreichen Familien und Alleinerziehenden.

Gibt es Armut überhaupt?

Würde einem bzw. einer RegierungsvertreterIn diese Frage gestellt werden, so würde die Antwort "Nein" lauten. Denn nach offiziellen politischen Verständnis gibt es keine Armut, da diese mit der Sozialhilfe als abgeschafft gilt. Wenn von Armut die Rede ist, dann nur von "bekämpfter Armut". Mittlerweile wird aber immer deutlicher, dass diese Auffassung nicht mit den realen sozialen Verhältnissen in Deutschland in Einklang zu bringen ist, sie ist ganz im Gegenteil als zynisch zu bezeichnen. Aus diesem Grund weigert sich die Bundesregierung bis heute, einen Armutsbericht zu erstellen, der aber für eine wirkungsvolle Armutsbekämpfung notwendig wäre. Hier haben Wohlfahrtsverbände wie der Caritasverband und der Paritätische Wohlfahrtsverband in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund aus der Not eine Tugend gemacht und in Eigenregie Armutsberichte erstellt, die aber nur zum Teil repräsentativ für die deutsche Bevölkerung sind.

Was bedeutet Armut?

In Diskussionen über Armut wird oft deutlich, dass es eine eindeutige Definition von Armut nicht gibt. In der Regel wird ein Konzept der "relativen Armut" verwendet, das Armut immer in Verhältnissen zu der jeweiligen Gesellschaft stellt. Im Gegensatz dazu gibt es noch die Definition der "absoluten Armut", die vom physisch notwendigen Existenzminimum ausgeht, ohne das ein Mensch nicht überleben kann.
In Deutschland, wie auch in anderen Industrienationen, bedeutet Armut normalerweise nicht, dass man/frau verhungern muss, ganz im Gegensatz zu Ländern in der sogenannten dritten Welt. Deshalb ist es wichtig, sich anzuschauen, was es bedeutet, in einem reichen Land wie Deutschland arm zu sein. Als erste Bezugsgroße wird immer das Einkommen genannt.

Eine häufig verwendete Armutsdefinition geht davon aus, dass ein Einkommen, das unterhalb von 50 Prozent des Durchschnittseinkommens in einem Land liegt, als Grenze für Armut gilt. Hier gibt es das Problem, dass nicht immer verlässliche Einkommensdaten vorliegen. Daneben wird aber auch der Bezug von Sozialhilfe von SoziologInnen und ÖkonomInnen als Kriterium für Armut genannt.

Hier taucht aber das Problem der sogenannten "versteckten Armut" auf. Dahinter verbirgt sich das Wissen,dass längst nicht alle Personen, die aufgrund ihrer Einkommenslage das Recht auf Sozialhilfe hätten, davon auch Gebrauch machen. Gründe hierfür sind häufig Scham oder auch mangelndes Wissen über die Möglichkeit, Sozialhilfe zu beziehen. Als Kompromiss werden häufig beide Armutsdefinitionen nebeneinander benutzt.

Armut ist aber mehr als nur Einkommensmangel, denn wenig Einkommen bedeutet in der Regel auch, dass man/frau sich weniger gesund ernährt, nicht in den Urlaub fahren kann, in billligen Wohnungen wohnt, möglicherweise auch eine nicht so zukunftssichere Ausbildung machen kann oder auch leichter arbeitslos wird. Diese Aspekte werden mit dem "Lebenslagenansatz" beschrieben, auf den an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann.

Wer ist in der Bundesrepublik Deutschland arm?

Seit dem Zweiten Weltkrieg ist es zu einem ständigen Wandel der von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen gekommen. In den sechziger und siebziger Jahren waren ältere Frauen besonders häufig von Armut betroffen, seitdem sind es immer mehr Arbeitslose, AusländerInnen und Alleinerziehende, die arm sind. Ein noch relativ neues Problem ist die zunehmende Armut bei Kindern und Jugendlichen. Doch gerade bei letztgenannten taucht das Problem auf, dass hierüber noch kaum Untersuchungen vorliegen, die eine sinnvolle Armutsbekämpfung überhaupt erst möglich machen.

Die armen Frauen

Ein Blick auf die Armutsquoten der vergangenen Jahre zeigt, dass Frauen und Männer in etwa gleichem Ausmaß von Armut betroffen sind. So lagen die Quoten im Jahre 1992 für Männer bei neun Prozent, für Frauen bei elf Prozent. Diese Zahlen informieren allerdings nicht darüber, in welchen Lebensverhältnissen die Personen leben.

Auch wenn heute nicht mehr gesagt werden kann, dass Frauen im direkten Geschlechtervergleich mehr von Armut betroffen sind, so zeigt ein genauer Blick auf die Armutszahlen dennoch, dass Armut in vielerlei Hinsicht häufig ein geschlechtsspezifisches Problem ist. Auf diese Probleme soll im folgenden etwas genauer eingegangen werden.

Der Arbeitsmarkt und die Armut von Frauen

Der deutsche Arbeitsmarkt ist seit einiger Zeit zunehmend von strukturellen Problemen geprägt, die vom Niedergang vormals florierender Branchen wieder Schwer- und Textilindustrie bis hin zur zunehmenden Globalisierung der Wirtschaft mit der Auslagerung der Produktion in Billiglohnländern reichen. Hinzu kommen die Schwierigkeiten im Gefolge der Transformation in Ostdeutschland, die auf noch unabsehbare Zeit zu Betriebsschließungen und damit Entlassungen führen werden. Die jüngsten Arbeitslosenzahlen für Juni 1996 zeigen zum ersten Mal keine deutliche Entspannung auf dem Arbeitsmarkt wie noch im gleichen Zeitraum der Vorjahre, ganz im Gegenteil, die Quote liegt mit zehn Prozent für Gesamtdeutschland besorgniserregend hoch. Dabei spiegelt diese Quote nur einen Teil des Problems wider, denn in einer Gesamtquote tauchen weder regionale Unterschiede in verschiedenen Teilen Deutschlands auf, noch werden einzelne Problemgruppen berücksichtigt.

In Westdeutschland waren 1993 zehn Prozent der Männer im erwerbsfähigen Alter arbeitslos gegenüber sieben Prozent der Frauen. Dies bedeutet allerdings nicht,d ass Frauen auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt Vorteile hätten, sondern es zeigt, dass viele Frauen nicht registriert arbeitslos sind. Im Osten liegen die Quoten anders: dorten 1993 28 Prozent der Männer im erwerbsfähigen Alter arbeitslos gegenüber 38 Prozent der Frauen. Dies zeigt, dass Frauen im Osten eher vom Arbeitsmarkt abgedrängt werden als Männer.

Hinzu kommt die mittlerweile große Zahl der Langzeitarbeitslosen, die bereits aus der registrierten Arbeitslosigkeit herausgefallen sind. Letztgenannte werden auch in der Literatur häufig als "stille Reserve" bezeichnet. In Westdeutschland ist diese "stille Reserve" von 855.000 im Jahre 1991 auf 1,02 Millionen im Folgejahr 1992 angewachsen. Mit 76 Prozent ist die überwältigende Mehrzahl der von Langzeitarbeitslosigkeit betroffenen Personen weiblichen Geschlechts. Diese Frauen haben in der Regel keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, was entweder bedeutet, dass sie auf Sozialhilfe oder aber auf den Unterhalt vom Ehemann angewiesen sind.

Ähnlich sieht es bei den geringfügig Beschäftigten aus, bei der keine Sozialversicherungsbeiträge eingezahlt werden und demzufolge im Falle der Arbeitslosigkeit kein Arbeitslosengeld gezahlt wird. Im Jahre 1991 waren 2,4 Millionen Personen in Westdeutschland geringfügig beschäftigt, im Folgejahr 1992 waren es bereits 2,5 Millionen. Auch hier stellen Frauen mit 70,1 Prozent die Mehrheit.

Arbeitslosigkeit und Armut sind insbesondere bei den beiden angsprochenen Problemen der Langzeitarbeitslosigkeit und der geringfügigen Beschäftigung gekoppelt. Die oben genannten Zahlen zeigen, dass Frauen hiervon überproportional betroffen sind.

Frauenarmut ist oft auch die Armut von Kindern

Im Gegensatz zu den siebziger Jahren stellen ältere Frauen nicht mehr die am deutlichsten von Armut betroffene Gruppe dar. Dies soll nicht heißen, dass weibliche Altersarmut nicht mehr vorhanden ist, aber die Dynamisierung der Renten hat zumindest die schlimmsten Armutsfälle beseitigen können. Dabei darf nicht verschwiegen werden, dass 1992 immer noch 50,3 Prozent der Renterinnen Renten bis 600 DM bezogen, während dies nur bei 10,2 Prozent der Männer der Fall war. Im Falle der ostdeutschen Frauen hat die Rentenanpassung mit der Einführung eines Zuschlages, der die Renten auf ein Mindestniveau angehoben hat, zu einer finanziellen Besserstellung geführt.

Die hauptsächlich und am deutlichsten von Armut betroffenen Gruppen stellen heute zum einen die Alleinerziehenden dar und zum anderen kinderreiche Familien. Damit wird schon auf den ersten Blick deutlich, dass Kinder ein Armutsrisiko darstellen. Die Zahlen für verschiedene Haushaltstypen machen dies deutlich: im Jahre 1992 waren in Westdeutschland sieben Prozent der Einpersonenhaushalte arm, vier Prozent der Partnerhaushalte, zwölf Prozent der Familienhaushalte und 33 (!) Prozent der Alleinerziehendenhaushalte. Anders ausgedrückt, war siebte Familienhaushalt und jeder dritte Alleinerziehendehaushalt arm. Sind schon in den Familien Frauen und Kinder mitbetroffen, so wird bei den Alleinerziehenden ganz besonders die geschlechtsspezifische Problematik deutlich, denn über 90 Prozent der Alleinerziehenden sind Frauen.

Armut in der Familie ist Frauenarmut

Die oben genannten Armutszahlen lassen ein Problem völlig unberücksichtig, das in der Forschung noch kaum angesprochen wird. Bei der Betrachtung der Armutsquoten von Familien wird nicht deutlich, wie die Armut innerhalb der Familie verteilt ist. Aus der qualitativen Sozialforschung und der Familiensoziologie ist bekannt, dass immer noch häufig der Ehemann als "Verdiener" über das Haushaltseinkommen verfügt und an seine Ehefrau Haushaltsgeld ausgibt. Gerade bei armen Haushalten ist zu vermuten, dass Frauen noch stärker von Armut beeinträchtigt sind als Männer, da sie in der Regel häufiger mit der Erziehung ihrer Kinder betraut sind. Dies bedeutet, dass sie auch direkter mit Problemen im Alltag der Kinder, wie zum Beispiel der Bezahlung von Kleidung, Geburtstagsgeschenken usw. beschäftigt sind. Gleiches gilt für die eigenen Bedürfnisse von Frauen in armen Familien. Auch hier ist zu vermuten, dass Frauen eher als Männer bereit sind, ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen und damit die Armut innerhalb der Familie ungleich verteilt ist.

Was tun gegen Armut? - Oder: Armut ist schlecht verteilter Reichtum

Die Einkommensentwicklung der letzten Jahre zeigt, dass es zu einem zunehmenden Prozess des Auseinanderklaffens von niedrigem Einkommen auf der einen Seite und sehr hohen Einkommen auf der anderen Seite gekommen ist. Oder anders ausgedrückt: die Armen haben immer weniger, die Reichen immer mehr.

An dieser Stelle können nur einige wenige Punkte angesprochen werden, die eine differenzierte Armutspolitik ausmachen könnten. Im wesentlichen sollen hier drei Aspekte angesprochen werden:

  1. Eine veränderte Familienpolitik,
  2. Arbeitsmarkt und wohnungspolitische Maßnahmen,
  3. Sozialhilfe und ihre Alternativen.

Zum ersten Punkt, der veränderten Familienpolitik, ist die Umgestaltung des Familienlastenausgleichs zu fordern, da die Kinderfreibeträge zur Zeit gerade einkommenschwächere Familien kaum entlasten. Außerdem sollte das Kindergeld einkommensabhängig gezahlt werden, denn es ist nicht einzusehen, dass in zeiten knapper Kassen reiche Familien ebenso wie ärmere Kindergeld beziehen. Außerdem sollte das Erziehungsgeld so umgestaltet werden, dass es als Lohnersatzleistung dienen kann. Die Zeiten, in denen Frauen in jedem Fall wegen eines Kindes ihre Arbeit vielleicht für immer aufgeben, sind vorüber. Schließlich ist der Aufbau von bezahlbaren Kinderbetreuungseinrichtungen eine Forderung, die immer wieder genannt werden muss.

Zum zweiten Punkt, den arbeitsmarkt- und wohnungspolitischen Maßnahmen, ist zu sagen, dass ein Abbau von Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen in der derzeitigen Arbeitsmarktsituation fatale Langzeitfolgen haben kann. Damit wird ein Heer von unqualifizierten Personen produziert, deren Unterhalt über Sozialhilfe auf längere Sicht wesentlich teurer sein wird als ihre Qualifizierung. Außerdem muss die Steuergesetzgebung dahingehend verändert (und vor allem vereinfacht) werden, dass kleine Selbständige (die oft Frauen sind) nicht schon nach kurzer Zeit übergroßer Steuerlast wieder aufgeben müssen. Zur Wohnungspolitik bleibt anzumerken, dass der soziale Wohnungsbau, insbesondere für Familien und Alleinerziehende, ausgebaut werden müsste. Das Problem der Obdachlosigkeit, auf das hier nicht eingegangen werden konnte, ist mittlerweile auch bei Familien vorhanden.

Schließlich ist noch auf den dritten Punkt, die Sozialhilfe und ihre Alternativen, einzugehen. Die Sozialhilfe hat sich mittlerweile zum letzten Netz für viele Personen gewandelt, für die sie eigentlich nicht gedacht war, wie zum Beispiel Langzeitarbeitslose. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung seit einigen Jahren systematisch Bundeslasten (Arbeitslosengeld) auf die Kommunen (Sozialhilfe) abwälzt, die mittlerweile zu großen Haushaltsproblemen bei vielen Kommunen (wie zum Beispiel Frankfurt am Main) geführt haben. Hinzu kommt die demütigende Prozedur der Antragstellung für die Sozialhilfe, die zu versteckter Armut führen kann. Hier ist also dringender Handlungsbedarf geboten, etwa in Form einer steuerfinanzierten bedarfsorientierten Grundsicherung. Andere Reformvorschläge, wie das Sozialeinkommen, zielen darauf ab, den Einkommensausfall bei langanhaltender Arbeitslosigkeit auszugleichen.

Daneben gibt es eine Reihe weiterer Reformvorschläge, die alle die Einführung einer Grundsicherung zum Ziel haben. Für Frauen ist es wichtig, ein Grundeinkommen unabhängig vom Ehemann erhalten zu können, insbesondere für ausländische Frauen hat sich diese Forderung als notwendig erwiesen. Außerdem ist die Entlastung der Kommunen eine wesentliche Forderung für die Reform der Sozialhilfe, da es nicht angehen kann, dass Armutslasten dermaßen ungerecht verteilt werden, wie es zur Zeit noch der Fall ist.

Armut in einem reichen Land wie der Bundesrepublik Deutschland ist beschämend und muss auf allen Ebenen bekämpft werden. Dafür ist es allerdings dringend notwendig, dass die Bundesregierung endlich bereit ist, die Existenz und Dramatik des Armutsproblems zu erkennen.

Marion Möhle

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