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Rahel Varnhagen

Wir haben Sylvies Idee aufgegriffen und wollen die Biographien der auf Briefmarken abgebildeten Frauen für unsere Leserinnen und Leser in den nächsten Ausgaben der MATHILDE veröffentlichen. Wir beginnen mit der Schriftstellerin und Salonière.

Rahel Levin wird 1771 als ältestes Kind des jüdischen Juwelenhändlers Levin in Berlin geboren. Sie wächst auf in dem Bewusstsein, dass jüdisch zu sein eine Schande ist. Als Frau bliebt ihr nur ein Ausweg aus dieser angeborenen Schmach: Die Heirat mit einem gesellschaftlich anerkannten Mann. Aber für die Regeln des Heiratsmarktes fehlt ihr der nötige "Verkaufswert", sie ist weder reich noch schön genug!

Beim Tode ihres Vaters ist sie 19 Jahre alt und finanziell vollkommen unabhängig von ihren Brüdern, die das väterliche Geschäft übernommen haben.

In dieser Situation beginnt sie sich zu bilden. Sie hat nie eine Schule besucht, so liest sie wahllos alle Bücher, die ihr in die Hände fallen. Sie beginnt nachzudenken, denn "auf das Selbstdenken kommt alles an". Sie sucht die Begebnung möglichst vieler Menschen, um zu lernen. So entsteht in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts ihr erster Salon. In ihrer kleinen Dachstube versammeln sich die Männer des intellektuellen Berlins: die Brüder Humboldt und Schlegel, Schleiermacher, Jean Paul, Brentano, Kleist, Chamisso, außerdem Diplomaten, Adelige und SchauspielerInnen. Durch ihre intensive und aufrichtige Art der Kommunikation hält sie alle diese Menschen zusammen, gerne wird ihren "Dachstubenwahrheiten" gelauscht. Trotz allem ist sie nicht glücklich in dieser Zeit. Durch die Verleugnung ihrer jüdischen Wurzeln hat viel von ihrer Identität verloren. Zwei Liebesbeziehungen zu adligen Männern scheitern, für sie eine Bestätigung ihrer "infamen Geburt". Im Jahre 1806 beendet der Einmarsch Napoleons in Berlin nach dem preußisch-französischen Krieg die Epoche ihres ersten Salons. Es ist zugleich das Ende der Romantik. Mit dem neuen Jahrhundert beginnt die Restauration, und damit eine neue Welle des Antisemitismus. Neue Salons entstehen, die Statuten der "Christlich-Teutschen Tischgesellschaft" verbieten Frauen, Philistern, Franzosen und Juden den Zutritt. Rahel ist gesellschaftlich isoliert. 1812 beginnt sie, Auszüge aus ihren Briefwechseln anonym in Zeitschriften zu veröffentlichen. Sie ist eine begabte Schreiberin, ihre Sprache spontan und poetisch.

Mit 43 Jahren lässt sie sich taufen und heiratet 1814 den 14 jüngeren August Varnhagen, der sie bewundert.

Nach Aufenthalten in Wien, Frankfurt am Main und Karlsruhe kehrt sie 1819 mit ihrem Mann nach Berlin zurück. In den zwanziger Jahren treffen sich in ihrem Salon KünstlerInnen, SchrifstellerInnen, Politiker und Wissenschaftler. Gesellschaftlich arriviert, sucht sie den Kontakt zu ihrer verarmten Jugendfreundin Pauline Wiesel, vielleicht um ein Stück ihrer eigentlichen Identität wiederzufinden.

Spät in ihrem Leben wird sie zur Kämpferin für Frauen- und Menschenrechte. Sie stirbt 1833 in Berlin. Rahel Varnhagen hinterlässt nicht nur die Erinnerung an eine weibliche Kultur des Salons, sondern auch einen umfangreichen Briefwechsel, ein großes kommunikatives Netz mit den unterschiedlichsten Menschen - von der Gräfin bis zur Köchin, vom einflussreichen Politiker bis zum erfolglosen Schriftsteller. Große Teile ihres Nachlasses, vor allem Briefwechsel mit Freundinnen und der Familie sowie ihre Tagebücher sind bis heute nicht veröffentlicht.

Barbara Obermüller

Literatur:
Frauenportraits aus zwei Jahrhunderten,
Kreuz Verlag '81 - Sammlung Varnhagen, Biblioteka Jagiellonska, Krakau

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