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MATHILDE

Im Mutterhaus

Erinnerung, dieses Rückblick-Mechanismus bedienen wir uns ständig, ohne uns über seine Bedeutung ganz bewusst zu sein. Doch ohne Erinnerung wäre unser Leben nur ein Ablauf kontinuierlich verschwindender Augenblicke. Unser Leben hätte keine Geschichte. Wir bewahren Erinnerungen auf, ohne genau zu wissen, warum und ohne erkennbare Zusammenhänge. Wir glauben, wir wüssten die Gründe, sie seien, so wie sie von uns erinnert werden, die Wirklichkeit unseres gewesenen Lebens. Und es gibt Erinnerungen, die so abgrundtief im Unbewußten versunken sind, dass nicht einmal ihr Vorhandensein bemerkt wird. Aber dann, eines scheinbar zufälligen Tages, taucht eine Erinnerung auf wie ein Leiche aus der Tiefe des Moores und will partout eine ganze Geschichte sein. Und die bis dahin als Wirklichkeit geglaubte Erinnerung verwandelt sich.

Es war bereits Mitte April, als ich das leere Haus meiner Mutter in einem kleinen japanischen Dorf betrat. Die Kamelien, die im Winter blühen, hätten gewöhnlich längst schon ihre Blüten abgeworfen. Diese aber hingen noch gräulich verfärbt wie matschige Flecken am Baum. Die ungewöhnlich strenge, lang andauernde Kälte hat ihnen wohl so zugesetzt, dass sie am Blütenansatz klebrig verfaulten und den Zeitpunkt verpassten, in anständiger Form abzufallen, mit dem ganzen Kopf nämlich, in ihrer noch frischen Farbe.

Der Anblick dieser schäbigen Kamelien in Mutters Garten wirkte wie eine Zauberformel, im Nu die viereinhalb Jahrzehnte und um viele Weltecken herum wurde ich zurückgebeamt in meine Kindheit, ich lese die abgefallenen Kamelienblüten auf, die rot glänzend auf dem feuchten, kalten Steinboden um den Dorfbrunnen liegen. Aneinanderfeädelt ergeben sie eine Girlande, die ich - kindlich feierlich erregt - um meinen Hals lege. Weich und kühl sin ddie Blütenblätter an meinem bloßen Nacken, wie die Hände meiner Mutter, denke ich...Und als wäre dieser Gedanke ein Falschsignal, zerplatzte mein nur sekundenlanger Tagtraum auf der Stelle, und ich stand wieder im verwilderten Garten meiner Mutter. Nein, wie hätte ich wissen können, wie ihre Hände sich an meiner Haut angefühlt hätten, da ich ja keine Erinnerung an solche Berührung habe? Als Kind stellte ich mir die Hände meiner Mutter kalt vor, und die Vorstellung wurde Erinnerung, die ich dann als meine Wirklichkeit in mir bewahrte. Aber tatsächlich wußte ich nur, dass meine Mutter Kamelien mochte.

Die Mutter, die ich nun in einem Altenpflegeheim wiederbegegnete, schien erinnerungslos geworden zu sein, ihre Wahrnehmung ist hauptsächlich auf das Umittelbarste um ihren Leib bezogen und nur auf das reine Jetzt, das nicht Gedächtnis wird. (Welche Kämpfe musste sie ausfechten - im Grunde nur gegen sich selbst - um diesen Zustand zu erreichen? Kämpfe, woran sie sich nun auch nicht erinnern kann?) Nur der Körper - reduziert auf minimale Funktionen - ist befremdlich gegenständlihc, und das lässt ihn um so gegenwärtiger erscheinen. Ich habe Ehrfurcht vor diesem verdorrten, 85jährigen Körper, der sich in ungeheuren Anstrengungen darauf konzentriert, da zu sein, weil er eben da sit, noch. Ist er auch vergangenheitslos geworden? Wenn sie mir in die Augen schaut aus ihrem im Alter kindlich gewordenen Gesicht, erschrecke ich fast vor dem Schwarz ihrer Augen, vor diesen winzigen Öffnungen, die schnurstracks zu dem Geheimnis ihres Lebens hinabzuführen scheinen. Nein, ihr Leben, ihr wirkliches Leben, das ich nich tkenne, ist unantastbar geworden, eingeschlossen in diesem kleinen, abgemagerten Körper. Nur die Einsamkeit, die ohne Frabe, Geruch und Geräusch aus ihm ausdünstet, ist öffentlich und groß.

Dass ich diese meine Mutter in meinen Armen halte, ihrer sichelförmigen Wirbelsäule entlang streichele, ihre verweinten Augen und die Nase abwische, ihre vertrocknete, schlaff um die hlzigen Knochen hängende Haut eincreme, ja, dass ich überhaupt den Körper meiner Mutter berühre, ist neu. Und ich tue es, als möchte ich etwas ertasten, das mir erwidert, einem verstimmten Musikinstrument gleich, von dem ich Töne erhoffe, die mir vertraut entgegenklingen sollten. Aber hat es jemals solche Vertrautheit gegeben zwischen uns? Wir sind, meine Mutter und ich, sehr arm an gemeinsamen Erinnerungen. Wir haben voneinander weggelebt. Die Mutter, die jetzt in meinen Armen ruht, ist eine mir sehr entfernte Person. Und je entfernter mir unsere Beziehung erscheint, desto gnadenlos eigenwilliger verlangt die Tatsache "Wir sind Mutter und Tochter" danach, sich zu bestätigen.

Es war wohl ein glücklicher Zufall, dass ich bald in einem Buchladen einige Hörbücher fand, und darunter eine Erzählung, die meine Mutter sehr geliebt und fast auswendig gekannt hatte. Wir, ihre Kinder, erfuhren diese toll-witzige Geschichte mit den merkwürdigen Protagonisten nur aus dem Mund unserer Mutter, die so oft die Sätze aus dem Buch zitiert oder die Szenen geschildert hatte. Irgendwie war es unser Buch gewesen. Also kaufte ich für sie die Kassette und einen Walkman.

Und ihr Lachen beim ersten Satz schon - wegen meines angeborenen Leichtsinns hatte ich immer nur Pech, heißt es. Und ich blicke auf, als wäre der Alltag unserer frühen Tage zurückgekehrt! Immer wieder vor sich hinnickend und glucksend lauschte sie den ihr vertrauten Sätzen "...Jaja, ich erinnere mich..ich weiß noch ganz genau..."Dann erzählt sie mir,d ass sie sehr traurig gewesen sei, als dieser Schriftsteller starb: "Er war noch jung, noch vor 50. Er war magenkrank...Magenkrebs hatte er. Ich musste tagelang weinen, als er starb..." In Wirklichkeit war meiner Mutter erst fünf Jahre alt, als der Schriftsteller starb, aber in ihrem jetzigen Bewußtsein spielt solche Differenzierung keine Rolle. Sie erinnert sich jetzt, nach so vielen Jahren und Jahrzehnten daran, dass sie als junge Frau gewünscht hatte, ihr Lieblingsautor hätte noch länger gelebt und geschrieben.

Während die Mutter sich dem Walkman hingab, las ich das Buch - zum Mal jetzt. Staunend stellte ich dann fest, dass es nicht nur eine witzige Geschichte mit tollen Figuren ist, wie ich sie als Kind wahrgenommen hatte. Es handelt sich um eine vergebliche Auflehnung eines frischgebackenen Lehrers gegen die Borniertheit einer Dorfgemeinde, in die er eingesetzt wird, um den Versuch, sich gegen die starre Konvention zur Wehr zu setzen, sich zu behaupten, was kläglich scheitert. Und ich beginne zum ersten Mal, die Vorliebe meiner Mutter für diese Literatur zu begreifen, wie sehr musste sie sich gesehnt haben, wie der Held - geradlinig stolz und beinahe einfältig aufrichtig - sich durch das Dickicht der engstirnigen Gewohnheiten und Reglements hindurchzukämpfen, und wie sehr musste sie sich aber davor gefürchtet haben, wie der Held - tollpatschig und kompromissunfähig - am Ende zu scheitern. Nur der Humor, der dem Autor so hinreißend bösartig gelang, rettete sie vor dem seelischen Untergang.

Eine merkwürdige Entdeckung ist es, in einer Erzählung, deren Handlung mit dem Lebenslauf meiner Mutter gar nicht zu tun hat, eine mögliche Gestalt meiner Mutter zu erkennen. In den Worten des Ich-Erzählers spüre ich ihren Zorn, ihre Verachtung, ihre Unsicherheit, ihre Verzweiflung und auch ihre Sehnsucht. Sie zeichnen die Konturen einer jungen Frau, die sich - machtlos gegen die ihr auferlegte Konvention und zu einsam, um sich selbst zu ermutigen - dem Schicksal, eine Frau in ihrer Zeit zu sein, fügte. So temperamentvoll und so mimosenhaft, so stolz und so ängstlich - wie ich meine Mutter wahrgenommen hatte - war sie nur in der Undifferenziertheit der Emfindungen verfangen. Sie vermochte nicht, ihre freien Gedanken zu reflektieren, eigener Widersprüchlichkeit gewahr zu werden und sie zu artikulieren. Nicht, weil sie nicht klug genug war, sondern weil es einer Frau nicht geziemte, sich zu behaupten, viele Worte zu gebrauchen, um sich auszudrücken. Nicht mal das Lesen war ihr gegönnt. Ich las öfter im Bett unter der Bettdecke mit einer Taschenlampe und wenn meine Eltern michd a ertappten, gab es fürchterliche Schelte...: ja, ich erinnere mich doch an diese Worte meiner Mutter, die sie nicht ohne gewissen Stolz aussprach. Und sie hörte nicht auf zu lesen. Ist es möglich, mir vorzustellen, dass meine Mutter nur durch die Lektüre bestimmter Literatur das leben konnte, was ihr verwehrt war? Ersatzweise und sehr indirekt? Was sie nicht selbst mit eigenen Worten kundtun konnte, durfte, hatte sie vermittelt, ind dem sie uns unermüdlich von jenem Abenteuer des jungen Lehrers erzählte. Vielleicht war es ihre einzige Rettung aus der drohenden Depression. Den zuweilen bissigen Humor - aber nie zynisch! - des Autors machte sie sich zu eigen. Nur wir, ihre Töchter, die mit ihr lachten, waren taub und blind gegenüber dieser Frau, die durch diese Geschichte sprach. Fast hielten wir es für einen Tick der Mutter.

Jetzt denke ich ihre nie selbst formulierten Gedanken, erinnere mich an ihr ungelebtes Leben, das um so hartnäckiger in ihr geschwelt haben muss. Nun ist es erloschen. Ihr Gesicht - dem Walkman lauschend - ist friedvoll. "Mutter, schläfst du schon?" "Nein, ich höre...Jetzt ist die Stelle mit den Heuschrecken." Sie lacht geschlossenen Mundes.

Und wie hätte ich jemals vergessen können, dass es meine Mutter war, die mir alle jene Frauennamen eingeprägt hatte, die mich später beschäftigen sollten: Anna Karenina, Tess d`Urberville, Effi Briest, Madame Bovary, und die Kameliendame! Allesamt Frauen, die an der gesellschaftlichen Konvention zugrunde gehen. Wie die arme Tess in den Tod geht, das wirst du nie vergessen...solchen Tod gibts nicht bei japanischen Frauen...es ist europäisch, mit diesen Worten machte sie den Namen Tess d'Urbervilles von Thomas Hardy für mich unvergesslich. Ist es möglich anzunehmen, dass meine Mutter im Geheimen es vorzog, auf europäische Weise zu lieben, zu leiden und zu sterben? Und warum? Ich denke für dich, Mutter über einen möglichen Grund nach; ich denke, weil die Japanerinnen eher dazu neigen, sich der Konvention zu fügen und darin aufzugehen, anstatt sich ihr zu stellen, und am Ende gesellschaftlich zugrunde gehen, aber nur, um sich selbst zu bewahren. "Der Gerechtigkeit war Genüge geschehen..." kommentiert der Erzähler, nachdem er den Gang von Tess zu ihren Henkern geschildert hat. Warum Gerechtigkeit in Gänsefüßchen? Wegen des doppelten Sinns: die Gerechtigkeit, die die Gesellschaft verlangt, und die eines Einzelnen für sich selbst. Diese Leidenschaft des Selbstseins durfte meine Mutter nicht leben; außer in der Literatur, in der sie aber nur den Schatten ihres Selbst erhaschen konnte.

Ist die fiktive Wirklichkeit, die meine Mutter kraft ihrer empfindsamen Assoziation in sich hergestellt hatte, die sie zumindest getröstet hatte, noch in ihrem Körper bewahrt; als ihre Geschichte nahtlos verwoben mit ihrem tatsächlich gewesenen Leben, darin auch ich einen Platz habe? Tess sagt, die Welt seie einem wurmstichigen Apfel gleich...Das sagtest du. Jetzt weiß ich es.

Ich, ihre Tochter, die sie mit 19 Jahren verließ, habe nicht gewusst, dass ich in einem unsichtbaren Haus, das aus der ungelebten Auflehnung und der unerfüllten Sehnsucht meiner Mutter gebaut war, aufgewachsen bin: das imaginäre Haus aus Stoffen der Literatur, in der man bewusst oder unbewusst sich selbst zu begegnen sucht. Mehr als dreißig Jahre entfernt bin ich kaum aus diesem Mutterhaus hinausgegangen.

Hisako Kashiwagi

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