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MATHILDE

Picknick bei Salome

... Ach, früher war es schön! Schön spannend. Als ich noch jung war, war die Luft gefüllt mit Flüstern und Knistern von Verboten, die mich ängstigten und zugleich faszinierten. Was diese mahnenden Stimmen wollten? Sie haben mir verboten, einen Körper zu haben, einen stetig heranreifenden Körper, den ich selbst sah, empfand, der von den anderen gesehen wurde, gesehen werden wollte ...

Salome streckt auf dem grünen Gras ihre Beine aus, aus dem Rocksaum erscheinen die zierlichen Füße, weiß wie Alabaster die fast noch kindlichen Knöchel.

... sie wollten, dass ich liebe, dass ich liebe den Gott, diesen körperlosen Nur-Geist. Aber weil sie mir verboten haben, einen Körper zu haben, war mir die Sehnsucht nach einem richtigen, wirklichen Körper so groß und die Intention, die Verbote zu übertreten, so verlockend! Das nannte man Sünde ... ein süßes Wort, nicht? ... ja, der sündenlose Mönch sprach mit mich umarmenden Worten die Gnade aus ... entzückend! Dieses Wechselspiel zwischen der Angst, verdammt zu sein, und der Hoffnung auf Erlösung, bis man wieder dasteht als ein heiler Mensch, wie jemand, der weder über den Körper noch über den Geist selbst verfügt! Wer war das, der sagte, Verbote sind dazu da, um übertreten zu werden? Salome lächelt vor sich hin, schelmisch, und wissend. Logisch! Wenn keiner die Tabus bricht, wozu dann die Tabus? Es muss tiefsinnige Gründe gegeben haben, warum unsere Ur-ur-ur-...Eltern - oder waren es nur Väter? - Verbote erfunden haben, die sogar Jahrtausende überlebt haben.
Und jetzt? Jetzt ist alles erlaubt. ... Man darf alles begehren, auch das Weib des Nächsten, wie man sich da anstellt, wird im Fernsehen dargestellt, inklusiv Beratung. Wer sich darüber erzürnt, ist selber dumm. "Wilde Ehe" ist ein totes Wort. Alles basiert auf dem freien Willen des Individuums.

Salome gickelt wie ein albernes Gör, so dass sie ihre betörende Schönheit beinahe Lügen straft.

... Wie bitte? - Freiheit? ... Gleichberechtigung? Emanzipation? Du meinst, alles was ich sage, ist nur prüde Nostalgie oder nostalgische Prüderie? Nun gut, die sexuelle Befreiung! Hurra!

Salome blickt finster drein, und ihre betörende Schönheit ist wieder hergestellt.

Die Frauen haben sich des lästigen Keuschheitsgurts entledigt. Aber die Männer auch! Und was hat diese Befreiung uns gebracht? Eine Flut von öffentlicher Pornographie! Ich muss ja nicht die Einzelheiten aufzählen, du weißt, was ich meine. Sex ist Geld, ist Leistung, ist Belohnung. Sexualität ist eine frei flottierende Ware geworden. Auch solche Extravaganz wie Tantra und Karmasutra sind nicht mehr die unerreichbare Blume. Freie Märkte für alles und jeden. Das ist der Reichtum, der Wohlstand. So weit, so gut, wenn man die Sexualität nur als Mittel der Macht begreift und als schlicht animalische Auflösung biologisch bedingter Bedrängnis mit dem Auftrag Fortpflanzung ... auch zukünftige Päpste müssen schließlich erst gezeugt und geboren werden.

Salome schneidet Grimassen. Keine Spur mehr von der Schönheit.

Aber dieses tun auch die Tiere. Was aber die Menschen von den Tieren trennt, ist neben dem Bewusstsein des Todes, der Zeit, eben die Fähigkeit dafür, die Sexualität über das Animalische hinaus in eine andere Qualität zu steigern, nämlich in die Liebe ... ich meine jetzt nicht im Sinne der Caritas oder Agape, sondern des Eros, jene Fähigkeit, die die Seele - übrigens, gibt es heute noch die Seele, oder heißt es jetzt alles Selbstbewusstsein? -

Salome lehnt sich mit dem Ellbogen an das verfilzte Haupt ihres einstmals schönen Jochanaans und blickt in die Ferne, als schaut sie in sich hinein.

... und den Körper mit Sehnsucht nach ... ja wonach denn ... füllt und sie schmachten lässt. ... ich erinnere mich doch an deine schmachtenden Liebesrufe, Salome! ... Ach ... den "kleinen Tod des Augenblicks", den man Orgasmus nennt, nur mechanisch, routinemäßig haben? Quasi aus dem Versandhaus-Katalog ins Haus geliefert? Ich glaube, solches Verhalten nannte Diotima aus Mantinea, jene weise Frau, die dem Sokrates die Liebe beibrachte, Banausentum, also Liebesbanausen.

Salome lacht breitmäulig, so wie man sie noch nie gesehen hat. Und das lässt ihre betörende Schönheit sehr liebenswürdig erscheinen.

Von den weisen Ethnologen wissen wir, dass die Verbote, die die Sexualität betreffen, lange vor dem Christentum existierten wie die Tabus, die den Tod umgeben. Das Christentum aber hat den Menschen gespalten in Körper und Geist und dabei den Körper verleugnet. Doch gerade die Prüderie hatte einen überraschend fruchtbaren, aber durchaus verkannten Effekt. Wo Verbote sind, sind Überschreitungen. Und die Überschreitungen benötigen Idee, Phantasien, und sie beflügeln die Fähigkeit zur Imagination ...

Salome tanzt auf dem grünen Gras, wirft ihre sieben Schleier nacheinander hinter sich ...

diese Menschen eigene Geist-Seele-Körper-Aktivität, die schöpferische Kraft. Worauf ich hinaus will? Ich meine, die Kirchenmoral hat die Sexualität letzten Endes nicht ersticken können, einerseits hat sie sie zur heimlichen Grausamkeit degradiert, die selbst die Tiere nicht kennen, gleichzeitig aber hat sie die Imagination gestärkt, die Verbote zu überschreiten, ohne sie aufzuheben und die Sexualität zur Erotik gesteigert. Sogar die mittelalterliche Kirchenmalerei bezeugt erotisch anmutende Darstellung, findest du nicht? Warum denn wirken viele Marienfiguren und -bilder so anziehend?

Salome stellt sich hin wie die Madonna von Fra Angelico, umgeben von einer klangvollen Stille.

... weil sie die reine Jungfrau ist und dazu noch Mutter Gottes? Ob mit oder ohne Kirche, die Künstler waren wild darauf, erotische Bilder zu malen, und im Mittelpunkt steht oder liegt, naturgemäß, immer die Frau, vorzugsweise nackt. Es gibt sogar frontale Darstellungen der offenen Vulva. Es mutet zwar fast albern an, wenn sie dann "Ursprung der Welt" oder so betitelt ist. Aber spätestens dann erhebt sich doch in uns Frauen die Frage, was ist die Erotik für die Männer? Nur Obszönität? Diskriminierung der Frau? Ja, wenn die Sexualität nur beim Animalischen bleiben, und nicht in das Menschliche, in die Erotik gesteigert ... und wo finden wir die Grenze dessen, was Gewalt ist und was Erotik, was Liebe ist?

Salome krault zärtlich das verfilzte Haar ihres einstmals schönen Jochanaans.

... Kennst du zum Beispiel die Darstellung der Goldregen empfangenden Danae, die einzige ernstzunehmende Konkurrenz für Maria seit der Renaissance, wenn auch nur in der Kunst? Sie ist doch in jeder Darstellung für jedes Auge schön, wirklich erotisierend. Aber ein Goldregen ergießender Zeus? Nein, danke! Gewiss kann man da einwenden, das sei eine ästhetisierende Darstellung einer Vergewaltigung, wenn auch einer göttlichen. Aber die Maler haben eben nicht den heimtückischen, Macht strotzenden Zeus dargestellt, sondern die träumende Danae. Eben darauf kommt es an. Es ist die Erotisierung der begehrten Frau und die Sehnsucht des Malers nach dem Sein.

Salome blickt wie die Judith von Klimt. Schauderhaft ... schön.

Mich macht zornig, wenn heute irgend einer im Namen der Kunst Vergewaltigungsszenen veröffentlicht und dem Publikum damit sogar soziale Kritik vorgaukeln will. Es ist nicht nur die Entblößung des Frauenkörpers als Objekt der Begierde, es ist zugleich der Verrat des Malers eigener gewalttätiger erotischer Phantasie. Dass so etwas öffentlich erlaubt wird, ist einer der Preise, sogar ein hoher - denn Kunst zu kritisieren ist schwierig - den die Frauen für ihre sexuelle Befreiung zahlen müssen, wie gesagt, auch die Männer sind befreit, beziehungsweise entfesselt. Es ist aber nicht nur im Sinne der Frauendiskriminierung empörend. Der Sexualität haftet unweigerlich eine gewisse Gewaltsamkeit an, und wenn dieses Gewaltpotential buchstäblich frei flottieren darf, bedeutet das auch die Gefahr für die Gesellschaft überhaupt.

Salome gähnt hemmungslos.

... was wollte ich eigentlich erzählen? Ja, ja, von früher ... es war schön früher. Diese Verbote, auch wenn es paradox klingt, die Verbote schützten unsere Intimität, nein, nicht die verschämte Heimlichtuerei meine ich, sondern das Innere in uns, wo auch diese rätselhafte Empfindung der Liebe herkommt, dieses Hingezogensein zu einem bestimmten Menschen und diese unerklärliche Sehnsucht, mich bei diesem Menschen zu verlieren, um wieder zu mir selbst zurückzukommen. Nenne mich altmodisch oder nostalgisch prüde oder was du willst. Eines siehst du doch auch ein, einen Liebesroman ohne Hindernisse wirst du nicht einmal zum Einschlafen lesen wollen, oder? Ach, ist das alles nur mein Problem?

Salome nickt, zieht die Sektflasche aus dem kühlen Bach und schenkt mir ein.

Hisako Kashiwagi

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