Werden Sie auch eine

MATHILDE

"Lieber Leser!"

Fühlen SIE sich angesprochen? Wenn nicht, dann lesen Sie weiter!

Den Anstoß zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch gab die feministische Linguistik in den USA schon Anfang der 70iger Jahre. Initiiert von der Frauenbewegung wurde sie von Sprachwissenschaftlerinnen in die Linguistik hineingetragen. Die ersten Vertreterinnen in der Bundesrepublik waren die beiden Professorinnen für Sprachwissenschaft, Senta Trömel-Plötz und Luise F. Pusch, die als Privatdozentinnen an der Universität Konstanz die deutsche feministische Linguistik begründeten.

Seit ein paar Jahren sind viele Sprachteilnehmerinnen sensibel geworde und fordern die sprachliche Gleichbehandlung. Ein Kritikpunkt, der im Mittelpunkt steht, ist das sogenannte "generische Maskulinum", z.B. "Lehrer", "Ärzte". Es wird die grammatische Form des Maskulinums gewählt, um sowohl Männer als auch Frauen zu bezeichnen. Da es das "generische Femininum" nicht gibt, werden so maskuline Bezeichnungen einmal ausschliesslich für das männliche Geschlecht und daneben verallgemeinernd gebraucht. Frauen werden bei Bezeichnung von gemischtgeschlechtlichen Personenkreisen nur mitgemeintl. Beispielweise wird von einem "Chor mit hundert Sängern" gesprochen, auch wenn dieser aus neunundneunzig Frauen und nur einem Mann besteht.

Um dieses sprachliche Ungleichgewicht zu beseitigen, wird angstrebt, das generische Mauskulinum - soweit es geht - zu vermeinden. Hierzu gibt es folgende Möglichkeiten:

1: Beim sogenannten Splitting werden sowohl Frauen als auch Männer genannt. Als Varianten werden diskutiert:

  • Die Klammer - Leser(in)
  • Der Schrägstrich - Leser/in
  • Das Binnen-I - LeserIn
  • Die Paarformel - Leserin und Leser

2: Geschlechtsneutrale Bezeichnungen und Formulierungen, zum Beispiel:

  • geschlechtsneutrale Substantive wie Person oder Mitglied
  • Wortzusammensetzungen mit geschlechtsneutralen Grundwörtern wie -kraft, -teil oder -leute
  • Pluralformen substantivierter Adjektive oder Partizipien (die Minderjährigen, die Angestellten)
  • Umformulierung mit Hilfe von Attributen (ärztliche Behandlung statt Behandlung durch einen Arzt)

Die Paarformel hat gegenüber den geschlechtsneutralen Formulierungen den Vorteil, dass Frauen sichtbar gemacht werden, allerdings werden die Texte dadurch länger. Die Verkürzung durch Klammer oder Schrägstrich spart zwar in der Schriftform Platz, lautet im mündlichen Vortrag jedoch korrekt ausgesprochen: "Leser und oder Leserin". Viele Frauen lehnen das verkürzte Splitting ab, weil das Suffix "-in" die Frau optisch als Anhängsel erscheinen lässt.

Das Binnen-I ist mündlich nur schwer auszusprechen (mit einem Knacklaut "Leser 'in"). Wegen der schlechten Zitierbarkeit lehnt das Bundesjustizministerium die verkürzten Beidnennungen für die Rechtssprache ab, was jedoch nicht daran hindert, diese Fromen im alltäglichen oder sonstigen öffentlichen Sprachgebrauch zu verwenden.

Zu bedenken ist jedoch, dass das Splitting im zusammenhängenden Text eine Reihe von ebenfalls gesplitteten Pronomen nach sich zieht und unverständlich werden kann, zum Beispiel: "Eigenhändige Unterschrift des/der Antragsteller(s)/in oder sein(es)/er bzw. ihr(es)/er gesetzlichen Vertreter(s)/in..." Solche Negativbeispiele werden gern von Gegnern und leider auch Gegnerinnen angeführt. Gefragt ist jedoch keine starre Schablone, nach der jedes generische Maskulinum gesplittet wird, sondern vielmehr sprachliche Kreativität: Suchen nach der jeweils besten Möglichkeit. Engere Grenzen sind den geschlechtsneutralen Formulierungen in Gesetzestexten gesetzt. Aber auch in diesem Bereich wurde vor wenigen Tagen ein Gutachten für das Bundesjustizministerium von der Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden veröffentlicht.

Bereits im Herbst 1987 wurde vom Bundestag eine interministerielle Arbeitsgruppe "Rechtssprache" eingesetzt und beauftragt, die Rechtssprache im Hinblick auf die sprachliche Gleichbehandlung von Frauen und Männern zu untersuchen und Verbesserungen vorzuschlagen. Mit ihrem Bericht vom 17. Januar 1990 gab die Arbeitsgruppe ihre Empfehlungen ab, die teilweise vom Bundesministerium der Justiz ins Handbuch der Rechtsförmlichkeit aufgenommen wurden. Demzufolge werden alle Gesetzentwürfe dem im Bundestag eingerichteten Redaktionsstab der Gesellschaft für deutsche Sprache zugeleitet, bevor sie dem Kabinett zur Beschlußfassung vorliegen.

Einige Bundesländer, sowie Städte und Kreise haben daraufhin Empfehlungen für den geschlechtergerechten Sprachgebrauch herausgegeben. Die hessischen "Richtlinien zur Gleichbehandlung von Frauen und Männern in der Vorschriftensprache" (veröffentlicht im Staatsanzeiger für das Land Hessen, Wiesbaden, 1992, Nr. 9, S. 538) befassen sich mit Behördenbezeichnungen, Berufs- und Amtsbezeichnungen, sowie abstrakten Bezeichnungen von Personenklassen: Maskuline Personenbezeichnungen sollen durch geschlechtsindifferente Ausdrücke ersetzt werden. Ist dies nicht möglich, soll umformuliert werden. Geht auch das nicht, soll auf Paarformen umgestellt werden (ausgeschrieben oder notfalls mit Schrägstrich). Alle personalisierten Behördenbezeichnungen sollen neutral gefasst werden. Der Sprachwandel ist also (hoffentlich unaufhaltsam) ins Rollen gekommen!

Übung macht die Meisterin:

  1. der Vorsitzende
  2. jeder Arbeitslose
  3. der Antragsteller
  4. alle Interessenten
  5. Wir suchen jemand, der uns hilft
  6. Wer das nicht akzeptiert, der muss selbst einen Vorschlag machen
  7. Einer nach dem Anderen
  8. Der Nächste bitte!
  9. Businessman
  10. Kaufmann
  11. Unterschrift des Passinhabers

Lösungsvorschläge (keine abschließende Aufzählung):

  1. das vorsitzende Mitglied, wenn Plural möglich ist: die Vorsitzenden
  2. alle Arbeitslosen; jede arbeitslose Person
  3. wer einen Antrag stellt...
  4. alle Interessierten; alle, die daran interessiert sind
  5. wir suchen eine Person, die uns hilft; wir suchen jemand, die oder der uns hilft
  6. wer das nicht akzeptiert, muss selbst einen Vorschlag machen
  7. Einer nach der Anderen
  8. Der oder die Nächste bitte! Wer ist an der Reihe?
  9. In den USA heißt es nun "businessperson"!
  10. Analog zu businessperson hat die Gesellschaft für deutsche Sprache als Berufsbezeichnung in ihrem neuesten Gutachten "Kaufperson" vorgeschlagen
  11. Unterschrift; dieser Pass gehört; zwei verschiedene Pässe: einen wie bisher, den anderen mit dem Wortlaut: "Unterschrift der Passinhaberin"

Ines Schader

zurück

MATHILDE