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Unsichtbar und explosiv

Die Tomate ist dabei, als erste gentechnisch veränderte Frucht den Markt zu erobern. Seit Mai 1994 ist sie in den USA auf dem Markt und inzwischen hat Großbritannien ebenfalls den Startschuss gegeben, die ewig junge Frucht in Form von Tomatenmark noch in diesem Jahr in die Kaufläden auf der Insel zu bringen. Aufmerksame VerbaucherInnen in Deutschland befürchten, dass die eingedosten Gentomaten auch zu uns aufs Festland schwappen könnten.

Die genetisch manipulierte Frucht mit dem wohlklingenden Namen Savr Flavr (spricht sich wie das englische saviour flavour, zu deutsch: Geschmacksretterin). Hält sich für 20 Tage lang ohne zu schrumpeln. Außerdem besitzt sie, laut Industrie, ein ideales Aroma. ProduzentInnen wittern eine Goldader. Wenn es nach ihnen ginge, würde die High-Tech-Tomate schon weltweit verkauft und mit ihr auch gentechnisch veränderter Raps, Mais, Soja und Chicoree, und zwar ohne es auf dem Produkt zu vermerken. Verständlicherweise regen sich da die VerbraucherInnen. Sie fordern eine Kennzeichung für genetisch veränderte Nahrungsmittel.

Seit 1992 ist der EU-MinisterInnenrat dabei, eine Richtlinie für neuartige Lebensmittel (Novel-Food), wie sie verharmlosend genannt werden, zu erarbeiten und zu verabschieden. Sie heißt Novel-Food-Richtlinie und erst im Juni konnte der EU-MinisterInnenrat sich wieder mal nicht darauf einigen, sie zu verabschieden. Streitpunkt ist die Kennzeichnung schlechthin. Die Industrie, ihre Lobby und mit ihnen der deutsche EU-Kommissar Martin Bangemann wollen überhaupt keine Kennzeichnung. BürgerrechtlerInnen fordern jedoch einen schriflichen Hinweis auf der Verpackung.

Nach der Meinung der Pressesprecherin des Bundesministeriums für Gesundheit können die Befürworterinnen der Kennzeichnung froh sein, dass die Entscheidung wieder mal aufgeschoben wurde. Die Novel-Food-Verordnung so wie sie im Augenblick vorliegt, zu verabschieden, würde bedeuten, eine ganze Menge Ausnahmen zu zulassen. Im Klartext heißt das zum Beispiel, eine Marmelade, die mit einem Zucker hergestellt wird, der von gentechnisch veränderten Rüber kommt, fiele nicht unter die Kennzeichnungsrichtlinie. In der Richtlinie, die zum Verabschieden vorliegt, müssen Lebensmittel gekennzeichnet werden,

  • die aus gentechnisch veränderten Organismen bestehen
  • gentechnisch veränderte Organismen enthalten
  • mit gentechnisch veränderten Organismen hergestellt wurden.

Die Ausnahmen sind schwammig formuliert. Sie heißen lapidar: Früchte, die in Geschmack und Eigenschaften nicht verändert sind, benötigen keine Kennzeichnung. Dabei bleibt die Frage offen, wer die Eigenschaften prüft.

Die Biologin und Bürgerrechtlerin Christine von Weizäcker streitet mit dem EU-Ministerrat in Brüssel um eine umfassende Kennzeichnung. Ihr stärkstes Argument ist die Erforschung der Auswirkungen von Gen-Food auf Frau und Mann.

Ohne Kennzeichnung können keine wissenschaftlichen Untersuchungen angestellt werden, wie genetisch veränderte Nahrungsmittel sich, über Jahrzehnte auf den menschlichen Organismus auswirken. Dem sorgfältigen Umgang mit Menschenleben stellt die Industrielobby das Argument der Wirtschaftlichkeit gegenüber: Die ganze Bürokratie zur Kennzeichnung - und wir als bürokratiegeplagte Deutsche können uns den Aufwand und somit auch den Preis vorstellen - würde auf die VerbraucherInnen umgelegt. Aber warum dann überhaupt eine neue Tomate? Dann kann doch gleich auf die begehrte Frucht der Preis der verdorbenen Tomaten aufgeschlagen werden. Dazu brauchen wir doch nicht den Umweg über die Gentomate.

Zurück von dem kleinen Ausflug in die heile Zeit vor der Gentechnik. Es gibt sie, die gentechnisch veränderten Nahrungsmittel. Dann aber ist eine Kennzeichnung nötig. Den Vorwurf der Hysterie lassen die BefürworterInnen sich nicht anhängen. Mit diesem unsachlichen Vorwurf sollen die BefürworterInnen der Kennzeichnung im EU-Ministerrat kleingemacht werden. Aber Bangemachen gilt nicht, Vernunft gilt - und Weitblick. Denn soviel ist klar: Gentechnik ist unabsehbar explosiv und - ganz ähnlich wie bei der Atomkraft - spüren wir die Auswirkungen nicht sofort. Wer nach Tschernobyl immer noch behauptet, ein Restrisiko müsse bei der Atomkraft in Kauf genommen werden, ist einfach menschenverachtend. Zu einem GAU, dem größten anzunehmenden Unfall, muss es in der Gentechnik ja nicht kommen.

Solange es keine Sicherheiten in der Kennzeichnung gibt, ist es für die VerbraucherInnen nur möglich, über den Einkaufkorb ihr Votum abzugeben und am besten nur bei Ökobäuerinnen und -bauern einzukaufen. Über das Kaufverhalten konnte der Industrie in der Vergangenheit ja schon manches Mal die Richtung gewiesen werden.

Barbara Köderitz

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