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MATHILDE

Mit Staunen erblicke ich meinen Schatten: Die perfekte Frau

 

1. Wahrnehmung

Es ist der Blick der Frauen, der mir auffällt, wenn ich ihnen die Frage nach der "perfekten Frau" stelle. Ein staunender Blick. Ein nachdenklicher, zweifelnder und suchender Blick. Woher kenne ich ihn, den Blick, der mich berührt?

Die Münder der Frauen sprechen eine andere Sprache als ihre Blicke. Aus den Mündern kommt die Sprache, die kein Suchen, keinen Zweifel zuläßt. Aufgeklärt und einheitlich verkündet mir diese Sprache:"Es gibt sie nicht, die perfekte Frau!" und ich denke: "Ja, das stimmt, genauso ist das. Es gibt sie nicht, die perfekte Frau." Aber ich spüre noch etwas anderes, ich fühle, dass der Blick der Frauen mehr sieht, als die Münder sprechen wollen. Und erinnere mich nun, woher ich diesen Blick kenne, es ist der Blick eines Kindes, welches sich über die Unerbittlichkeit des eigenen Schattens bewußt wird. Egal, wohin es geht, egal, was das Kind tut, der Schatten folgt beharrlich seinen Bewegungen.

Das Kind ist erstaunt, es sucht nach Möglichkeiten, mit seinem Schatten zu spielen. Es versucht auch, ihn zu überlisten, versucht, über ihn zu springen, ihn loszuwerden. Der Schatten bleibt hartnäckig und läßt sich nicht abschütteln. Dem Kind wird beigebracht, dass es Unsinn ist, mit seinem Schatten zu spielen. Weil nur Spiele, die von der Macht des Gewinnens und Verlierens erzählen, Sinn ergeben dürfen. Schließlich gibt das Kind auf, es spielt nicht mehr mit seinem Schatten und vergißt ihn. Es ist, als ob im Blick der Frauen sich die Erinnerung an den eigenen Schatten spiegelt. Und es ist, als ob ihre Worte diese Erinnerung leugnen wollen.

2. Gelerntes und Verlerntes

Ich sitze im Wartezimmer einer Arztpraxis, mir ist langweilig. Eigentlich wollte ich ja keine mehr von diesen Frauenzeitschriften anrühren, weil ich in den letzten Jahren durch viele Gespräche mit Freundinnnen und durch die Erkenntnisse aus der Frauenforschung gelernt habe, den Mythos der perfekten Frau zu durchschauen, der in den sogenannten Frauenzeitschriften forciert und gespiegelt wird. Dennoch kann ich nicht widerstehen und greife zu. Wie gebannt verschlinge ich die neuesten Schönheitstipps und die Diätvorschläge, sehe mich schon im Geiste die sensationellen Turnübungen vollziehen, die einen festeren Busen, flacheren Bauch etc. versprechen. Wie eine Süchtige, die nach dem Genuß einer Schnappspraline rückfällig wird, renne ich nach dem Arzttermin in ein Reformhaus, um mir gekörntes Meersalz zum Massieren der mit Cellulite "befallenen" Körperstellen zu kaufen. Zuhause angekommen, beginne ich sogleich, wie eine Irre mit dem Wundermittel auf meinen Oberschenkeln herumzuschrubben. Hinterher habe ich rote Striemen auf meinen Beinen, die natürlich verteufelt brennen durch das Salz.

Dann muß ich lachen über mich, und ich merke, dass da irgendetwas nicht stimmt. Ich dachte, ich sei sie losgeworden, die "perfekte Frau", die mir über lange Strecken meiner Sozialisation eingepflanzt wurde. Aber dieser Vormittag hat mich eines besseren belehrt.

Es gibt sie noch, "meine" perfekte Frau, sie ist in mir. Sie läßt sich nicht vertreiben, mit intellektueller Kraft, die sie zwar als patriachale Schablone und unerreichbares Ziel entlarvt, aber gleichzeitig leugnet. Sie wird durch die Leugnung nur eine Weile unsichtbar. Denn ich kann sie nicht abschütteln, weil sie mein Schatten ist.

3. Schattenspiele

Mir fällt ein, was meine Freundin Monika einmal über ihre Schatten sagte: "Ich darf meine Schatten nicht verleugnen, denn sie sind Anteile von mir. Ich will darum meinen Schatten ins Gesicht schauen, auch wenn mir nicht gefällt, was ich da zu sehen bekomme. Ich will meine Schatten an meinen Tisch bitten und sie fragen, was sie wollen, was sie sind. Auch wenn mir nicht gefällt, was ich da zu hören bekomme. So habe ich die Chance, ganz ich zu werden, mit meinen Schatten und all meiner Dunkelheit."

Dieser Gedanke hat mich sehr beeindruckt, ich habe gespürt, dass er mich etwas lehren kann. Weil in ihm die Möglichkeit liegt, weiterzugehen als es meine intellektuelle Kraft erlaubt. So entscheide ich mich für ein Spiel mit meinem Schattten.

Gut, ich bitte also meinen Schatten, die perfekte Frau, an meinen Tisch. Mir gegenüber sitzt eine superschlanke, durchtrainierte Frau, in lässiger Freizeitkleidung. Es ist ihr anzusehen, dass sie viel Zeit für ihr Äußeres aufwendet. Die "Dame" sieht mir zwar ähnlich, sie hat die gleichen Gesichtzüge, aber ansonsten? Ich starre sie an, frage mich immer wieder, was diese Frau mit mir zu tun hat, und werde mir meiner löchrigen Leggings und der viel zu großen Plüschhausschuhe bewußt. Sie schaut gelangweilt auf ihre Uhr (ich habe mich immer geweigert, Uhren zu tragen) und meint mit hochgezogenen Augenbrauen: "Ist ja nett, dass du mich auch mal bemerkst, aber leider habe ich heute abend wenig Zeit, mein Mann und ich bekommen Gäste zum Abendessen und die Kinder sind noch nicht versorgt. Also, was willst du?" Ich bin irritiert und besorgt, wieso hat die Kinder und einen Mann? Ich habe mich doch ganz bewußt vor einiger Zeit gegen "Familie und so" entschieden"?

Vielleicht habe ich mir da den Schatten einer anderen Frau ins Haus gerufen? Nein, sie hat ja am Anfang indirekt bestätigt, dass sie meine perfekte Frau ist. Während sich mir die Nackenhaare sträuben, versuche ich, mich an die Fragen zu erinnern, die ich ihr stellen wollte. Ich bin erleichtert, als mir ein paar Worte einfallen, die ich mir zurechtgelegt habe: "Da bist du also, mein Schatten. Du wirst mich begleiten, wahrscheinlich solange ich lebe. Und du bist so anders, als ich es mir vorgestellt..." "Ach hör doch auf! Anders als ich es mir vorgestellt habe" äfft sie meinen Tonfall nach, um gleich mit empörter Stimme fortzufahren: "Das Schlimme ist doch, dass du dir noch keine Vorstellung von mir gemacht hast! Du hast mich nie wahrnehmen wollen und mich vernachlässigt. Hast mich aus deinen Träumen ausgeschlossen. Aber genau das ist es doch, wovon ich mich ernähre: von Visionen und Träumen. Durch sie beginne ich zu leben und da du mir meine verweigert hast, mußte ich alles nehmen, was von außen kam. Wozu du zwar hiermit immer Nein sagtest..." sie deutet mit dem Zeigefinger auf ihre Stirn "...aber was trotzdem in deine inneren Bilder hineinfloß. Weil du nichts aus mir gemacht hast, weil du mich nicht bewußt geträumt hast, bin ich so, wie du es dir nicht vorgestellt hast!". Das sitzt!

Ich bin verunsichert und brauche einige Sekunden, um auch die Wut zu spüren, die bei ihren Worten entstanden ist. "Und was fange ich nun mit dir an? Heißt das, dass es besser wäre, zu resignieren und sich mit dem zu arrangieren, was meine perfekte Frau da mitbringt? Mit anderen Worten nun doch eine gute Mutter, Hausfrau, Geliebte zu werden, die gleichzeitig mit Erfolg ihren Job absolviert? Heißt das, dass ich nun doch den Kampf gegen das Altern antreten muß, mit Antifaltencreme und Bodybuilding, für einen "für mein Alter" jugendlichen und attraktiven Körper? Nein, das kann es doch nicht sein!"

"Du kapierst aber auch gar nichts!" sagt mein Schatten und verdreht dabei die Augen. "Du mußt mich neu träumen, wenn ich dir so nicht passe. Du mußt in mich immer wieder deine Visionen und deine Ideale von dir und von deiner Zukunft legen. Dann können wir uns aufeinander zu bewegen und unsere Kräfte vereinen! Das ist doch das Geheimnis: Deine Visionen und deine Schatten sind Energien, die Wandlungen möglich machen. Wenn du mich, deinen Schatten, bewusst träumst, machst du den ersten Schritt, mich zu wandeln und wirklich zu werden." Sie hält einen Moment inne und fägt dann hinzu, während sie sich zur Tür wendet: "Ich muß jetzt gehen, meine Zeit ist hier zu Ende." - "Sehen wir uns wieder?" frage ich leise. "Ja, wenn du einen Traum von dir selbst gefunden hast..."

So hatte ich mir die Begegnung mit meinem Schatten nicht vorgestellt: ich bin total verwirrt. Es ist aber eine fruchtbare Verwirrung, von der Art, die alle meine Gedanken und all mein Spüren durcheinander wirbelt und neu zusammensetzt. Ich schaue auf, um noch einen Blick auf meinen Schatten zu werfen, aber da ist sie, meine perfekte Frau, auch schon verschwunden.

Ziewa Mergenthaler

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