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MATHILDE

Sehr gut oder mangelhaft?

Eine psychoanalytische These

Auf der Suche nach Gründen, die Frauen zum Perfektsein drängen, kam ich wieder zu einem Begriff: Mangel. Es mangelt den Schülerinnen an Aufmerksamkeit der Lehrerinnen, selbst wenn diese sich explizit darum bemühen (MATHILDE berichtete); Frauen, die Kinder betreuen, erhalten keine gesellschaftliche Anerkennung. Ganz vielen Frauen fällt es schwer, sich ohne Mann oder ohne Kind vollwertig zu fühlen. Wen wundert es also, wenn Frauen bei ihrem Streben nach Anerkennung immer wieder neue Wege ersinnen, fehlerfrei und perfekt zu erscheinen?

Die Psychoanalytikerin Christiane Olivier schildert an einer Stelle ihres Buches "Jokastes Kinder. Die Psyche der Frau im Schatten der Mutter" an einer Stelle eine Mangelerfahrung, die etwas mit Sexualität zu tun hat. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass ein abwesender Vater in den ersten Lebensmonaten einen grundlegenden geschlechtlichen Mangel für das Mädchen bedeutet. Eine der Folgen diese Leeregefühls, folgert sie, sei der Hang zum Perfektsein. Auch wenn diese psychoanalytische Sicht etwas konstruiert erscheint, finde ich sie trotz vieler kritischer Punkte doch bedenkenswert. Sie kann auf jeden Fall Anstoß zu regem Austausch sein.

OLIVIER: Die Mutter hat Lust am Sohn, das Mädchen kein Gegenüber

Nach Christiane Olivier erleben Mädchen wie Jungen schon als Säugling eine sinnliche Lust und zwar auch mit ihrem Geschlecht. Fast immer ist es die Frau, die die Kinder pflegt. Deshalb ist sie nach nach Olivier die "Wegbereiterin der Erotik" und "der Quell für alle Empfindungen des Säuglings, für all seine Lusterlebnisse". Sie geht davon aus, dass die Mutter beim Waschen und Windeln des Mädchens mit der Scheide und der Klitoris nicht zärtlich umgeht, während sie beim Sohn den Penis außer pflegen auch sinnlich berührt. Leider nimmt Olivier zur weiteren Begründung Freud zu Hilfe. Der meint, eine Frau kenne erotische Empfindungen nur im Zusammenhang mit einem Mann und deshalb könne die Frau ihre Lust auch nur gegenüber dem Jungen ausdrücken.

Hier stellt sich gleich die Frage: Was ist, wenn die Frau selbst Lust an ihrem Körper hat, sich selbst begehrenwert findet - ohne männliches Gegenüber, vielleicht mit weiblichem Gegenüber? Dann könnte sie auch mit der Tochter lustvoll zärtlich sein.

Die Realität ist: Kinder werden von Frauen erzogen, die sich meistens selbst nur akzeptieren, wenn sie von einem Mann begehrt werden. (Die meisten Frauen können ein Lied davon singen, wie lange der Weg zur Unabhängigkeit ist). Somit könnte an der These etwas dran sein, dass meistens nur der Sohn, aber nicht die Tochter ein sexuelles Gegenüber hat.

Für die Psychoanalytikerin ist der fehlende Mann am Wickeltisch ausschlaggebend für das Leeregefühl, das viele Frauen in sich tragen. In ihrer Praxis sprechen Frauen häufig die Themen der Leere und der Überfülle, Bulämie (Eß- und Brechsucht) und der Magersucht an. Eine Klientin sagte mal zu ihr:

"Wenn man mich begehrt, dann bin ich nicht nichts."

Olivier schlußfolgert: "Es besteht kein Zweifel daran, dass die fehlende Befriedigungn zutiefst den Charakter der Frauen prägt." Bei uns Frauen bestünde ein permanentes Gefühl des Unbefriedigtseins. Sogar von "dämonischen Gefühlen" spricht die Autorin, was ich so interpretiere: dieses Gefühl, dass immer noch etwas fehlt, egal wie vollständig ein Tisch gedeckt, ein Artikel geschrieben oder ein Haus entworfen ist, verfolgt die Frauen, läßt sie nicht los. Frauen, die nicht zufrieden sind, suchen ständig Herausforderungen, an denen sie sich abarbeiten können. Der tragische Ausgang heißt: sie werden das Ergebnis nie ganz positiv finden. Es wird sich keine Zufriedenheit einstellen. Unbefriedigt suchen sie die nächste Herausforderung und fühlen sich nie in Ordnung. Sie glauben immer, dass etwas an ihnen falsch sei.

Nach Christiane Olivier kann nur der Vater die Tochter körperlich bestätigen. Deshalb appelliert sie an die Frauen, dem Vater am Wickeltisch Platz abzutreten. Ich füge hinzu: in der Gesellschaft, wie sie zur Zeit ist, kann vielleicht nur der Vater der Säuglingstochter ein sexuelles Gegenüber sein. Eine Frau allerdings, die mit sich selbst und ihrem Geschlecht lustvoll lebt, wird die Vulva ihrer Säuglingstochter beim Waschen und Abtrocknen auch sinnlich berühren und massieren. Lernen Frauen und Männer Lust an sich selbst zu haben, muß das sexuelle Gegenüber nicht mehr vom anderen Geschlecht sein.

Vielleicht ist es möglich, mit dem Weg der Lust auch den Weg der Gelassenheit zu beschreiten. Dann könnten wir über unseren Perfektionszwang heiter lachen und ihn nach und nach ablegen.

Barbara Köderitz

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