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Arm und reich

Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu den reichsten Ländern dieser Erde. Gemessen wird dieser Reichtum ja bekanntlich am Bruttosozialprodukt, sprich dem gesamten Ergebnis des Wirtschaftsprozesses während eines Jahres.

Seit Jahrzehnten ringen in Westdeutschland Sozialpolitiker und Wirtschaftsliberalisten darum, wie "unser" Reichtum zu verteilen ist. Es ist also nichts Neues, dass heute, wie im Zuge aller Wirtschaftskrisen, der Streit um öffentliche Finanzen ein zentrales Politikum ist.

Neu ist allerdings die Schonungslosigkeit, mit der heute der Angriff auf den Sozialstaat und die Armen geführt wird. Mit der Vereinigung beider deutscher Staaten haben sich die Bedingungen grundlegend verändert. Galt es früher eine Teilung der wirtschaftlichen Zuschüsse zu regeln, geht es heute um die Teilung der bestehenden "Substanz".

Laut Armutsbericht des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtverbands lebten in Deutschland noch nie so viele Menschen am Rande der Gesellschaft und noch nie so viele bedurften der sozialen Hilfe durch die Gemeinschaft.

Wie wird mit dieser Tatsache umgegangen? Im Klartext heißt das: Auf die Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt wird verzichtet, statt dessen werden sie aus der Arbeitslosenversicherung ausgeschlossen. Auf die Integration behinderter Menschen wird verzichtet, statt dessen werden ihre Ansprüche auf berufliche Rehabilitationsmaßnahmen eingeschränkt. Auf die Integration von Aussiedlerinnen und Aussiedlern wird verzichtet, statt dessen werden die Mittel für ihre Sprachkurse gekürzt. Die Liste ließe sich fortsetzen... Die Wissenschaft ist sich darüber einig, dass es einen einzigen "richtigen" Armutsbegriff nicht gibt. Vielmehr wird bei der Untersuchung von Armut auf Lebenslagen- bzw. Unterversorgungsanzeiger hingewiesen, wie z.B. in den Bereichen:

  • Einkommensarmut,
  • Arbeit bzw. Arbeitslosigkeit,
  • Bildung/Ausbildung bzw. keine Ausbildung,
  • Wohnen bzw. Wohnungslosigkeit.

Dass von dieser Unterversorgung Frauen, insbesondere (aber natürlich nicht nur) in den neuen Bundesländern betroffen sind, kann frau dem angeführten Armutsbericht entnehmen.

So erreichte ihr Anteil unter den Arbeitslosen im Herbst 1993 rund 65 Prozent. Zugleich ist der Frauenanteil nicht nur an den Vermittlungen deutlich niedriger, sondern auch bei den TeilnehmerInnenzahlen an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen.

Dass dies nicht auf ein geringes Interesse der Frauen an Beschäftigungs- oder Qualifizierungsmaßnahmen zurückzuführen ist, zeigen Befragungsergebnisse der Scheringer-Frauenstudie 93 des Instituts für Demoskopie Allensbach:
Eigene Berufstätigkeit und berufliches Weiterkommen wurden von einem hohen Prozentsatz der befragten Frauen als wichtig und erstrebenswert eingestuft. Die Benachteiligung von Frauen im Berufsleben setzt aber schon früher ein. In den neuen Bundesländern sind es vor allem junge Frauen, die Probleme haben, den gewünschten Ausbildungsplatz zu finden, vielfach geben die Betriebe männlichen Bewerbern den Vorrang. Mädchen bzw. Frauen können dann oft nur in außerbetrieblichen Ausbildungsstätten eine Ausbildung anfangen, ihr Anteil an diesen "marktnachteiligen" Jugendlichen ist daher mit 65 Prozent besonders hoch.

Es ist klar, dass statistisches Zahlenmaterial nichts über die subjektive Dimension von Arbeitslosigkeit, Unterversorgung und Armut aussagt. Im Bewusstsein muss bleiben, dass hinter jedem sogenannten "Sozialfall" das Schicksal eines Menschen oder aber einer ganzen Familie steht, die auf Hilfe von "außen" angewiesen sind. Mehr Verständnis und vorurteilsfreier Umgang mit den Betroffenen ist eine gesamtgesellschaftliche, wie menschliche Notwendigkeit. Wo ist die Lobby für die Armen?

Regine Jochmann-Munder

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