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MATHILDE

 
Ulrike Helmer Verlag, Frankfurt, 1994, ISBN 3-927164-83-6, DM 24,-

Buchbesprechung

Von einer, die auszog, um leben zu lernen...

"Zum sexuellen Missbrauch gehört das Schweigen. Dass ich nicht mehr schweige, schützt mich. Indem ich das Redetabu breche, das bestgehütete Geheimnis öffentlich mache, helfe ich mir selbst und vielleicht auch Dir, Frau, die Du meine Geschichte liest, bei der Verarbeitung der schlimmsten Schädigung an Seele und Leib weiblicher Menschen" sagt Regine in der Einleitung zu ihrem Buch.

In detektivischer Kleinstarbeit kam Regine ihrem Missbrauch auf die Spur, wie bei einem Puzzlespiel fügte sie Baustein für Baustein zusammen. Denn das Wissen darum war in die dunkelsten Ecken ihres Gehirns verbannt und wie mit dämpfender Watte umwickelt. Doch ihr Körper wusste um den Missbrauch. Schwindelanfälle, Angstgefühle, Schlafstörungen, Rückenschmerzen und Träume ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Die Wahrheit drängte ans Licht und machte Regine fast kaputt. Sie schaffte jedoch den entscheidenden Schritt vom "Inzestopfer zur lebendigen Frau" mit Hilfe einer Psychotherapie und nicht zuletzt durch das Begreifen ihrer lesbischen Identität.

Das Buch zeigt, dass es möglich ist, mit dem Wissen um den Inzest leben zu können. Regine erzählt ihre Geschichte mit einer schonungslosen Offenheit, die gleichzeitig Mut macht. Mut, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen. Denn sexueller Missbrauch geht uns alle an. "Wenn Lehrerinnen und Erzieherinnen Mädchen mal nach ihren Träumen fragen würden, so befürchte ich, dass jedes dritte oder sogar zweite etwas ähnliches erzählen oder aufmalen würde. Wie sehr könnte es diesen Mädchen helfen, wenn sie nur gefragt würden. Wenn sie nur einmal das Gefühl hätten, es höre ihnen jemand zu, während sie, auch noch so verschlüsselt, auf den Missbrauch aufmerksam machen" schreibt Regine und fordert, dass "sich heute erwachsene Frauen ihre eigenen Missbrauchserfahrungen bewusst machen, um nicht den heutigen Opfern gegenüber Augen und Ohren verschließen zu müssen".

Wer die eigene Inzesterfahrung verdrängt, kann anderen Frauen und Mädchen nicht helfen. Aber solange dem sexuellen Missbrauch unter dem Mantel der "heilen" Familie nicht nachgespürt wird, hilft dies nur den Tätern. "Es kann nicht dabei bleiben, vereinzelt Beiträge im Fernsehen zu senden oder vereinzelt Bücher herauszubringen" fordert Regine, denn "der sexuelle Missbrauch ist millionenfach begangenes, jeden Tag und jede Nacht stattfindendes Unrecht, über das wir nicht länger schweigen dürfen. Unser Schweigen hilft den Tätern".

Sabine Schiner

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