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MATHILDE

Unsichtbarer Zaun

Als ich 1937 in einer schwäbischen Kleinstadt geboren wurde, waren die Väter noch unangefochten "Familienoberhäupter" und die Söhne "Stammhalter", und niemand musste sich mit so unbequemen Themen wie Frauenemanzipation und Gleichberechtigung von Frau und Mann herumschlagen. Die Ehefrauen und die Töchter waren angepasst, lieb und fleißig, und während meiner ganzen Kindheit und Jugend ist mir nicht eine einzige autonome Frau begegnet. Noch nicht einmal in Büchern, denn die Mädchen und Frauen in "Nesthäkchen" und "Trotzköpfchen" hätten sich schaudernd von "Pippi Langstrumpf" und "Ronja Räubertochter" abgewendet.

Auch meine Eltern, die - verglichen mit den Eltern meiner Freundinnen - recht großzügig und ziemlich frei von Tabus waren - stellten die überkommenen Geschlechterhierarchie "Mann führt, Frau passt sich an" nie in Frage. "Männer sind die wichtigeren Menschen und müssen bedient werden", das muss sich mir ganz früh eingeprägt haben. Mein Elternhaus war liebevoll und ich wuchs mit meinem zwei Jahre jüngeren Bruder in großer Geborgenheit auf. Allerdings fehlten mir Orientierungspunkte, an die ich mich hätte halten können, es wurde nichts von mir erwartet. Ich wurde behütet, niemand traute mir viel zu, ich mir selbst auch nicht. Ich saß wie hinter einem unsichtbaren Zaun bei meinen Puppen.

Ich spann mich ein in eine Art Kokon, fern der Realität. Der Krieg verschonte unsere kleine Stadt weitgehend, aber er nahm uns während wichtiger Jahre den Vater weg. Die Schule schüchterte mich eher ein, als dass sie mich gefördert hätte.

Mit 16 hatte ich nicht die geringste Perspektive für mein Leben, außer einer verschwommenen Vorstellung von Heiraten und Kinderkriegen. Meine Eltern fanden, dass ich nun dringend hinaus müsste in die Welt und schickten mich nach Heidelberg in eine Hauswirtschaftsschule. Es war in Internat mit ca. 20 Mädchen zwischen 16 und 23 Jahren, die alle auf ein reibungsloses Funktionieren als Gattin und Mutter vorbereitet werden sollten. Die heutigen Mädchen würden sich totlachen, wenn sie sehen könnten, wie wir einmal in der Woche Samstag Nachmittags ohne Aufsicht zum Stadtgang durften und dabei zur Straßenbahnhaltestelle gebracht und am frühen Abend wieder abgeholt wurden! Immerhin besuchten wir regelmäßig Kunstausstellungen, Theater, Oper und Konzerte, durften sogar zur Tanzstunde mit Abschlussball (stündliches Melden bei der begleitenden Lehrerin!) und hatten alles in allem viel Spaß miteinander.

Wir schreiben nun das Jahr 1954, ich war 17 Jahre alt und tat, was viele deutsche Mädchen damals machten: ich ging als Au-Pair-Mädchen ein Jahr nach England. Putzen auf schwäbische Art, d.h. gründlichst und mit Hingabe, war mir ja beigebracht worden, und das erwies sich als gute Vorbedingung für den Job. Ich blieb ein Jahr bei einer netten englischen Familie, mit der ich noch heute Kontakt habe. Die beiden Jungen besuchten eine Ganztagsschule, das war in England damals schon selbstverständlich!

Noch immer wusste ich nicht, was ich eigentlich wollte, aber Sprachkenntnisse konnten ja nicht schaden. Zwei Sprachen sind besser als eine, nehmen wir französisch dazu und verlegen den Ort der Handlung in den Schwarzwald. Staatlich geprüfte Fremdsprachenkorrespondentin nannte sich der Abschluss und wir wurden geschult als zuverlässige Handlangerinnen künftiger Chefs. Auch an dieser Institution herrschte Zucht und Ordnung, unsere Zimmerwirtinnen waren angewiesen, Meldung bei der Schule zu erstatten, wenn wir abends nach 22 Uhr nach Hause kamen oder Herrenbesuch hatten!

Der Stellenmarkt war damals offen, das Wirtschaftswunder auf dem Vormarsch! Meine erste Stelle führte mich nach Überlingen am Bodensee, ich hatte meinen ersten Freund - nicht, weil ich verliebt war, sondern, weil ich fand, es sei nun höchste Zeit dafür. Immer noch lebte ich wie im Schneckenhaus in meiner eigenen kleinen Welt, träumte von einer Art Märchenprinz, der irgendwann einmal erscheinen würde, machte mich aber immerhin auf nach Paris. Hier arbeitete ich als Volontärin im Büro, fand das ganz nett und blieb doch ohne jeden beruflichen Ehrgeiz. Ich war gerne in Frankreich, liebte die vielen Theater und Museen in Paris und kam nach einem knappen Jahr zurück nach Deutschland.

Nie stellte ich mir die Frage, warum mein zwei Jahre jüngerer Bruder längst eine feste Vorstellung von seinem Leben hatte, mit Abitur, Studium und als späterer Nachfolger im Geschäft unseres Vaters, während ich diffus vor mich hin träumte und nicht das Bedürfnis entwickelte, mein Leben konkret zu planen. 1961, im Alter von 24 Jahren, war Darmstadt die Stadt, für die ich mich entschied, noch immer gab es Stellenangebote in Hülle und Fülle.

Ich kam ganz gut zurecht im Übersetzerbüro einer Darmstädter Firma und freundete mich mit einem gleichaltrigen Kollegen an. Es wurde eine Beziehung daraus und irgendwann war ich schwanger und heiratete Hals über Kopf. Rasch identifizierte ich mich mit meiner Rolle als Ehefrau und Mutter, verstaute meine Zeugnisse an irgendeiner entlegenen Stelle, vergaß sie dort und ließ mir flugs meine bis dahin eingezahlten Rentenbeiträge zurück erstatten. Ich sauste in ein Leben als Hausfrau total, bekam eine zweite Tochter und alles schien in bester Ordnung. Auftretenden Aggressionen und Gefühle von Unbehagen passten nicht ins Konzept. Ich fühlte mich dafür schuldig und putzte, kochte, backte und werkelte unermüdlich. Stets hatte ich das Gefühl, p e r f e k t sein zu müssen. Irgendwann bröckelte die Ehe, wurde geschieden, meine Töchter waren acht und fünf Jahre alt.

Ich wagte einen beruflichen (halbherzigen) Neueinstieg, fühlte mich als Rabenmutter, blieb wieder zuhause und versagte meinen Töchtern und mir aus sogenannter Mutterliebe das gemeinsame Freiwerden. Und endlich kam wieder ein MANN, er war ebenfalls geschieden und hatte zwei fast erwachsene Töchter. Eilends schmiss ich meine inzwischen wieder gewonnene Selbständigkeit über Bord und schlüpfte zurück in die Rolle der liebenden und abhängigen Ehefrau. Es war nun Anfang der siebziger Jahre, die beginnende Frauenbewegung erreichte mich nicht. Ich nahm sie einfach nicht wahr. 1977 - ich war fast vierzig - kam noch eine dritte Wunschtochter und ich ging noch einmal völlig auf im Muttersein. Es war schön und doch stimmte etwas nicht mehr, als die Jüngste in den Kindergarten und dann in die Schule kam.

Ich konnte nun nicht mehr ins Kinderkriegen flüchten, und schaffte es auch mit Volkshochschulkursen nicht, die beginnende Leere in meinem Dasein zu überbrücken. Ein Kurs für Wiedereinsteigerinnen im SEFO öffnete mir endlich die Augen für die Realität von Frauen und damit auch für meine Realität. Sehr spät und nicht ohne Schmerzen und Trauer um vergeudete Jahre kam ich aus meinem Schneckenhaus heraus, stets begleitet von meinen Töchtern und mit Schrecken betrachtet von meinem Mann, den meine späte Wandlung zur unbequemen »Emanze« nicht gerade mit Begeisterung erfüllte, der aber gelernt hat, damit umzugehen.

Barbara Obermüller

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