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Sexualität im Alter

Gesellschaftlich wird das Alter geschlechtsneutral gesehen: ein sexuelles Leben gesteht man den alten Menschen gar nicht zu. "Lustgreis" und ähnliche Bezeichnungen sind die Indikatoren dafür, dass Sexualität im Alter als ulkig oder pervers, eben als gesellschaftliche Devianz gesehen wird. Denn die gesellschaftliche Präferenz der Jugend potenziert sich beim Thema Sexualität. Parallelisiert wird diese Bevorzugung der Jugend durch eine bestimmte Schönheitsauffassung. Als schön gilt die vollkommene Form, die faltenlose, reine Oberfläche, alles, was zu einer "Fassadenästhetik" führt. Dem alten Menschen, marginalisiert als ein asexuelles, also drittes Geschlecht, wird dann Güte, Abgeklärtheit, Unkörperlichkeit und Unproduktivität unterstellt. Um nicht als Lustgreis und damit als lächerlich zu erscheinen, verhält sich nun die Mehrheit der älteren Menschen "altersgemäß", d.h. von einem gewissen Alter an unsinnlich. Diejenigen, die sich darüber hinwegsetzen, lösen eine Welle der Empörung aus und riskieren, sich der Lächerlichkeit und Verachtung preiszugeben. Was die Sexualität im Alter für den einzelnen bedeutet, hängt davon ab, ob ihm die Sexualität überhaupt etwas bedeutet hat. Wie wurde lebensgeschichtlich Sexualität erlebt? Die Behauptung vom Verschwinden der sexuellen Begierde im Alter unterstellt, dass die Libido ein Instinkt sei, der sich nur aus dem Funktionieren der Geschlechtsorgane speist. Das Begehren ist freilich von der Situation, dem Objekt und sonstigen Rahmenbedingungen abhängig. Zwar gibt es Menschen, deren Begierde erlischt, sogar noch bevor sie alt geworden sind; dafür gibt es meist Gründe, die in der Kindheit und Lebensgeschichte liegen. Sexuelle Indifferenz und Impotenz sind im Alter primär auf individuelle bzw. gesellschaftliche Barrieren zurückzuführen. Je positiver und befriedigender das Geschlechtsleben war, desto länger und lustvoller ist die Sexualität im Alter.

Alte Frauen: Wesen ohne Sinnlichkeit?

Das Thema der "Sexualität von alten Frauen" ist noch mehr mit Tabus belastet, als bei alten Männern. Das traditionelle Rollenbild der Frau als altruistisch liebende Mutter und aufopfernde Ehefrau determiniert das sexuelle Verhalten der Frauen im Alter; sie finden sich mit ihrer gesellschaftlich zugewiesenen Rolle als Großmutter ab - auch dann, wenn keine Enkelkinder vorhanden sind. Dabei ist die Sexualität der Frau im Alter in biologischer Hinsicht weniger beeinträchtigt, als die der Männer. Nach Kinsey müsste bei Frauen während des ganzen Lebens eine weitaus größere sexuelle Beständigkeit existieren, als bei Männern. Sie brauchen sich in ihren sexuellen Begierden und Beziehungen nicht einzuschränken bis ins hohe Alter. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Im Vergleich zu gleichaltrigen Männern nämlich nehmen die sexuellen Aktivitäten der Frauen häufig ab. In der Zeit des "Wechsels", wobei die Angst vor einer Schwangerschaft nicht mehr vorhanden ist, mithin das Verhältnis zum Partner entspannter werden könnte (zumal durch die Vermehrung des männlichen Hormons Testosteron ein befriedigendes, glückliches Sexualleben möglich wäre), definiert sich die Mehrheit der Frauen selbst als Wesen ohne Sinnlichkeit und verhält sich sexuell abstinent. Warum?

Jene Frauen, die ihre sexuellen Triebimpulse im Einklang mit der öffentlichen Meinung verdrängen und nicht ausleben, haben zumeist Sexualität nur als Erfüllung ehelicher Pflichten betrachtet. Es gibt aber auch andere ältere Frauen, die das Stereotyp vom Alter ohne Sexualität nicht akzeptieren und die Wechseljahre als die Chance eines Freiraumes sehen, um eine neue Identität zu finden und ihre Sexualität angstfrei und lustvoller zu leben. Sie stoßen damit aber auf gesellschaftliche Vorurteile. Hinzu kommt, dass ihr Sexualschicksal durch das ihrer Männer determiniert ist und ihre Männer im Durchschnitt älter sind. Die Ehe ist im Alter fast der einzige gesellschaftlich legitimierte Ort zur Ausübung von Sexualität, d.h. mit dem Sterben des Ehepartners geht für ältere Frauen meist auch der Verlust der Möglichkeit des sexuellen Austausches einher.

In patriarchalisch geprägten Gesellschaften bleibt es den Männern vorbehalten, im Alter eine junge Partnerin zu gewinnen: der umgekehrte Fall wird häufig als Perversion und Devianz empfunden. Der junge Mann am Arm der älteren Frau gilt entweder als ihr Enkel oder ihr Gigolo. Bedenkt man, dass Sexualität Zwischenmenschlichkeit bedeutet, d.h. soziale Aspekte wie Zuwendung, Zärtlichkeit, Empfindung und Anerkennung impliziert, dann lassen sich die Folgen von gesellschaftlich verordneter und individuell verinnerlichter Askese und Abstinenz im Alter konstatieren: psychosomatische Erkrankungen häufen sich im Alter, insbesondere bei alten Frauen: der Besuch beim Arzt ist oft der einzige männliche Kontakt, der einzige Ort, wo auch körperliche Berührungen stattfinden können. Das Stereotyp "Alter ohne Sexualität" diskriminiert ältere Menschen, die damit in ihren Möglichkeiten eingeschränkt werden. Pflege- und Alterswohnheime werden so konzipiert, dass dort ein Liebesleben fast unmöglich ist. Da man glaubt, dass alte Menschen keine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen haben, wird in Konzeptionen solcher Einrichtungen auch von einer Geschlechtsneutralität ausgegangen, was sich bis hin zur Architektur der Gebäude nachweisen ließe. Die prekäre Lage der Sexualität im Alter ist nur ein Spiegel der Marginalisierung des Alters überhaupt. In ihm wird besonders deutlich, dass Sexualität in unserer Gesellschaft oft nur unter dem Gesichtspunkt der Leistung gesehen wird, die man dem Alter weder zutraut noch zubilligt.

Farideh Akashe-Böhme

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